Aber welche Angst treibt die Menschen dazu, sich in Richtung Schönheit zu quälen, sich zu züchtigen, blutig zu schlagen wie die Flagellanten des Mittelalters? Damals erhofften sich fanatisierte Bruderschaften Sündenvergebung durch Selbstgeißelung; heute empfinden sich viele Menschen als zu dick und büßen mit anderen Instrumenten. Das überflüssige Fett wird als „sündig“ empfunden und der Sieg darüber als Triumph. Essen ist eigentlich gleichbedeutend mit Sündigen, Fasten aber ist gottgefällig. Askese mit Karotten und Salatblättern. Daraus entsteht der Heiligenschein.
Dass alle schön sein wollen, ist das letzte, alle Menschen verbindende und gemeinschaftsstiftende Ideal. Verehrt wird damit die heidnische Gottheit Aphrodite oder Venus, wie sie im alten Rom genannt wurde. Oder die Wallküren, die Schlachtjungfrauen aus der germanischen Mythologie; sie führen die Tapfersten der gefallenen Krieger nach Walhall. Das ist ihre Belohnung im Himmel. Ausgefüllt mit Kämpfen und irdischen Genüssen steigern die Wallküren die Wonnen des jenseitigen Lebens, ähnlich den Versprechungen des Islams für ihre Selbstmordopfer, also für die Märtyrer des Glaubens.
Dass alle Kultur letztlich aus einem religiösen Anspruch entsteht, wurde immer wieder erkannt und auch begründet; es ist also weiter nicht verwunderlich, dass auch der Schönheitskult als eine Art Gottesdienst gesehen wird. Begriffe wie Sünde und Tugend finden heute kaum mehr Verwendung; ersetzt werden sie durch Training und Diät.
Dabei entsteht alles aus einem - philosophisch gesprochen - erkenntnistheoretischen Missverständnis: Die jungen Menschen sehen sich nämlich viel dicker, als sie wirklich sind. Eine erfahrene Ärztin einer großen psychiatrischen Klinik setzte magersüchtige „Spinnen“ vor einen Spiegel, gab ihnen Papier, Bleistift, Farben und forderte sie auf, sich selbst zu zeichnen. Die meisten Selbstdarstellungen zeigten fettstrotzende, aus allen Nähten platzende Leiber, die Abscheu erregten.
Vorüber sind die Zeiten, in denen Mutterschaft und Frausein gleich bedeutend war. Die weiblichen Votivgaben aus der Vorzeit waren rundliche, gebärfreudige Idole, weit entfernt von dem, was wir uns heute unter einer Venus vorstellen. Also auf zum Turngerät, auf die Folterbank, ganz so wie im Mittelalter. Damals wollte man die Wahrheit erpressen. Heute will niemand mehr Wahrheit, nur Schönheit. Und Schlankheit.
Im burgundischen Reich des Mittelalters entstand ein neues Schönheitsideal mit gotisch schlanken Gestalten und eng anliegenden Gewändern. Auch die Beine und Füße verdünnten sich und endeten spitz wie Bohnenschoten. Der weibliche Leib wurde eingezwängt, wie in Rüstungen … aber damit sind wir bereits in der Neuzeit. So auch bei der Kaiserin Elisabeth, die mit Turngeräten, Fasten und dem Aufschreiben kostbarer Gedanken - Briefe und Gedichte - zum Vorbild der Zeit wurde. Sie hat sich wiederholt in Meran aufgehalten; dort steht auch ihr Denkmal mit dem ideal geformten Leib. „Der eingeschnürte Leib - das Korsett“, so der Titel einer Ausstellung im Frauenmuseum. Und dann der Hinweis auf die 1970iger Jahre, als das Korsett angeblich vom Modethron gestürzt wurde.
Weit gefehlt! „Trotz aller moderner Körperaufklärung hat sich dieses unsterbliche Folterinstrument weiblicher Silhouettenformung heutzutage in einem mittlerweile unüberschaubaren Angebot des ‚body shaping‘ reinkarniert.“
Wer schön sein will, muss leiden: „Maßgeschneiderte Korsetts von der Hand des Schönheitschirurgen“…
Aber was soll dieses düstere Warnen? Schönheitskult gibt es in unendlicher Vielfalt auch im Tierreich, dort vor allem bei den Männchen. So auch bei den Bartgeiern. Der einst sehr gefürchtete Lämmergeier ist der größte Greifvogel der Alpen. Er wurde in Martell, im Vinschger Nationalpark, wieder erfolgreich angesiedelt; den Namen verdankt er dem Bart unter seinem scharfen Schnabel. Er wird auch Rotbartgeier genannt, weil er für die Balz sein Halsgefieder in rostfarbigen Schlamm steckt und so als roter Ritter das Weibchen umwirbt.
Hans Wielander