Die über 3000 Meter hohe, ehemals vergletscherte Berggspitze bei Mals im Bereich des Schlinigtales ist bereits von Kortsch aus gut sichtbar und verbindet den Mittelvinschgau mit dem Engadin.
Das rätoromanische Wort dieses Grenzberges bedeutet „Fels mit Adern“ (aus "ses"= Stein, Fels, saxum und "vena"= Ader)
„Sonne wärmt kaltes Gestein“, eine poetische Deutung, aber treffend für das Foto mit dem Steinmeer, von dem ich ausgehe. Dieses Bild entstand vor vielen Jahren im südtirolisch-schweizerischen Grenzgebiet, als ich noch mühelos auf unsere Berge "kraxelte".
Der Übergang ins engadinische Seitental mit dem Bergbaumuseum in S-charl weckt wichtige Erinnerungen. Die einst nur rätoromanisch sprechende Bevölkerung wurde von Mönchen aus dem nahen Kloster Marienberg im Fach Deutsch unterrichtet. Erklärt wird im Museum neben anderen ortstypischen Besonderheiten auch das archaische Transportwesen.
Erzladungen gelangten über das Tauferer Tal nach Glurns und wurden am besten im Winter mit Schlitten über festgestampfte Schneebahnen befördert. Die Zugtiere trugen am Hals kleine Schellen und mahnten mit ihrem Läuten die entgegenkommenden Fuhrwerke rechtzeitig zur Freigabe der nur schmalen Schneespur. So entstand der Schichtverkehr für schwere Lasten auch über hohe Jöcher.
Bei der Altersbestimmung der Gesteinsschichten wird von den Geologen mit Jahrtausenden und Jahrmillionen nicht gespart. Neben der Zeitbetrachtung vermengen sich meine Gedanken mit musikalischen Überlegungen. Ich stelle mir vor, das leise Geräusch des Spaltenfrostes über Jahre auf Tonband aufzunehmen und dann, weiterentwickelt, in Variationen hörbar zu machen. Eine Aufgabe für den experimentierfreudigen Bozner Komponisten Albert Mayr, an dessen Musik man sich erst gewöhnen musste. Im auftauenden Gestein entstehen immer neue Töne und begrüßen die Sonne.
Auf ein zurückhaltendes "Sostenuto" folgt ein brillantes "Presto". Als Folge des wiederholten Gefrierens und Auftauens entstehen verborgene Melodien und eigenwillige Rhythmen. Alles wird wiederholt, damit sich der Hörer daran gewöhnen kann.
So ist es auch mit der elektronischen Musik, für die sich der Südtiroler Komponist Albert Mayr jahrelang eingesetzt und in Florenz an der Hochschule für Musik unterrichtet hat. Mehrere Generationen erziehend, wurde Albert Mayr ein geistiger und künstlerischer Bezugspunkt. Nun ist er im Jahr 2024 in Florenz achzigjährig verstorben.
Im Bild "Auf dem Weg zur Sesvenna" kehrt er immer wieder zurück. Das Steinmeer wird zu seiner Symphonie. Deshalb widme ich dieses Bild ihm und seinem Vater, der politisch ebenfalls als Außenseiter gegolten hat: Er verweigerte den Treueeid auf Hitler. Der christliche Bekenner Joseph Mayr Nusser wurde von Nazifanatikern in den Tod getrieben.
Aber zuerst muss ich die Logik des Spaltenfrostes erklären, der ganze Felsrücken abbaut und "musikalische" Steinhalden entstehen lässt. Durch die Adern des schieferigen Kalkgesteins dringt Wasser, gefriert und dehnt sich dabei. So entsteht die Sprengkraft. Mit den Knacktönen könnte komponiert werden.
Hans Wielander