Müstair/Kloster St. Johann - Das Gute-Laune-Duo Dorothea Amonn (Ruth Kofler als energische Bürgermeisterin und Hotelbesitzerin) und Helen Hillebrand (Martina Gögele als übermotivierte Marketingchefin) ist sich einig: Sankt Prokulus braucht ein neues Tourismuskonzept, ohne Rücksicht auf Verluste. Wovon die Damen in englischen Modewörtern plappern, entpuppt sich als Zertifizierung des ganzen Dorfes. Es sind weitreichende Veränderungen geplant. Die Gemeinde muss in Zonen eingeteilt und die Fraktion Froschbach geflutet werden. Denn eine Touristendestination ohne See ist nicht konkurrenzfähig. Ungut, dass gerade in der für Touristen nicht beworbenen Zone Diegos Geisterbahn (Florin Pöder), Lorenz‘ Pizzeria (Richard Schupfer) und Renates Residenz (Monika Vikoler) liegen. Lautstark und glaubwürdig meldet das Trio Protest an. Eine polnische Stararchitektin (Patrycja Pierchala) tritt auf und erklärt divenhaft, was die Umstrukturierung bewirken soll.
Entworfen hat die brisante Tourismus-Komödie „Ein See für Sankt Prokulus“ die aus Plaus stammende Autorin und Dramaturgin Selma Mahlknecht. Für die Volksbühne Naturns führt Mahlknecht auch selbst Regie und achtete detailgenau auf Bühnenausstattung und Kostümierung. Sie schafft es mit diesem Publikumserfolg, die Leute vor Lachen zum Brüllen und Denkprozesse in Gang zu bringen. Zu den Gestaltungmitteln zählen gefällige Musikeinlagen und eine hohe Dosis an Sprachspielen. An die zwanzig Episoden demonstrieren den Turbo-Tourismus der fiktiven Ortschaft, die man sich nah an der Wirklichkeit vorstellen kann. Mal sind sie satirisch überzeichnet und komisch, dann wieder klar identifizierbar und erschreckend real. Das Dialektstück ist keine Farce. Es zeigt so manche Schattenseite des Alpenzaubers, die exakt ausgearbeiteten Charaktere führen sie lebhaft vor: Die innovationsgeplagte Bürgermeisterin referiert auch während der Botox-Behandlung über Geschäftsstrategien, Zufriedenheit und ein ungenützter Steuerbonus sind ihr fremd. Geerdet wird sie von der Leiterin des SPA-Bereichs (Petra Wieser). Diese spricht unverhohlen von der „Kernzone Geld“ und beanstandet die Dorf-im-Dorf-Ungetüme, ausgestattet mit allerlei Spaßettln.
Die Inszenierung setzt auf Abwechslung, sodass immer wieder Kurzszenen dazwischengeschaltet werden, um Marketing zu karikieren. Das Social-Media-Team interviewt vor kitschigen Fototapeten oder dreht Werbespots, berichtet von der Baustelle, die noch gar keine Baugenehmigung hat, und zeigt singend und tanzend Happiness vor. Damit auch das Publikum „äußerlich besser ausschaut, als es sich innerlich fühlt“, wird ein kollektives Gesichtslifting durchgeführt. Nicht die einzige unterhaltsame Aktivierung der Zuschauer.
„Ollm sein die Leit ‘s Problem“, klagt die Bürgermeisterin. Besonders die protestierende Bürgerinitiative bereitet Schwierigkeiten. Mit einer abenteuerlichen Aktion will sie die Abgabe der Pläne und somit den groben Eingriff in ihre Lebenswelt verhindern. Ausgerechnet in Diegos Geisterbahn kommt es zur Wende, die dem Drama gegen Ende hin Pfeffer und dann einen versöhnlichen Schluss verpasst. Nicht ohne mutig Tabus aufzugreifen und Themen anzureißen, die auch in Vinschger Dörfern unter den Nägeln brennen. In einem Lied des Ensembles reimen sie sich, die Bedürfnisse aller Beteiligten: „Es muaß sich lohnen“ – aber eben auch: „Ma muaß do wohnen.“
Maria Raffeiner