Dass ich schon lange den Wunsch hatte, nach Lemberg zu reisen, hängt nicht nur mit der Vielzahl der Sehenswürdigkeiten zusammen, die den Reisenden in Lemberg erwarten, einem Schmelztiegel verschiedenster Kulturen (man lernt dort die ruthenische, jüdische, polnische, deutsch-österreichische und sogar die armenische Welt kennen), einer Altstadt, die zu Recht in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen wurde, einer Stadt voller Gaststätten, Kaffeehäuser mit angeblich den besten Süßspeisen weit und breit, Biersorten, die ebenfalls weitum gerühmt werden, einer Stadt voller junger Leute und einem entsprechenden Flair. Mein Wunsch, diese Stadt kennenzulernen, hängt auch mit der Tiroler Geschichte zusammen und ganz konkret auch mit der Geschichte meines Großvaters.
Mein Großvater war 21 Jahre alt, als der erste Weltkrieg begann. Er bekam zusammen mit tausenden anderen jungen Leuten den Einberufungsbefehl und musste sich in Innsbruck melden. Ob er darüber begeistert war, weiß ich nicht. In den Berichten von damals heißt es, es habe im August 1914 auch in Innsbruck eine Art Volksfeststimmung geherrscht. Man wollte offenbar mit Begeisterung in einen Krieg ziehen, ohne wohl zu ahnen, was ein moderner Krieg bedeutete und ohne auch vielfach zu begreifen, gegen welchen „Feind“ man denn überhaupt kämpfen sollte. Die Tiroler Soldaten, die sich in Innsbruck im August des Jahres 1914 versammelten, wurden ja bis auf wenige Ausnahmen nicht zum Schutz der näheren Heimat eingesetzt. Sie zogen auch nicht gegen Serbien, das, wie sie annahmen, bestraft werden sollte für den Mord an Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo. Nein, wie viele andere junge Tiroler bestieg auch mein Großvater in Innsbruck einen Zug, der ihn über Wien und Budapest nach Lemberg führen sollte. Dort sollten diese jungen Tiroler als Kaiserjäger gegen die russische Armee kämpfen. Mein Großvater zog dabei als Teil der Regimentsmusikkapelle in den Krieg. Offensichtlich gab es damals noch eine recht romantische Vorstellung von Krieg, bei der Musik nicht fehlen sollte. Angesichts der neuen Waffen, die in diesem Krieg eingesetzt wurden, insbesondere der Maschinengewehre, änderte sich die Stimmung bei den Soldaten aber sehr schnell. Die österreichisch-ungarische Armee verlor bereits in den ersten Monaten so viele Soldaten durch Tod oder Gefangennahme, dass sie sich von diesem Schock nie mehr erholte.
Mein Großvater hatte Glück im Unglück. Er war Teil eines Tiroler Kaiserjägerregiments, das gleich nach wenigen Tagen in russische Gefangenschaft geriet, angeblich da viele Tschechen, die zusammen mit den Tiroler Kaiserjägern kämpfen sollten, es vorzogen, zu desertieren, was die Schlachtordnung zusammenbrechen ließ. Und mein Großvater hatte das Glück, unter den allerersten Kriegsgefangenen zu sein. Sie wurden gut behandelt, gut versorgt und genossen Freiheiten, die man kaum glauben kann. So durfte mein Großvater offenbar ohne Bewachung und ohne Kontrolle auch das Gefangenenlager verlassen und z.B. mit Freunden ins benachbarte Dorf spazieren. Hauptsache, er war irgendwann wieder zurück.
Es gibt ein Foto meines Großvaters, das ihn während dieser Gefangenschaft der besonderen Art zeigt. Auf dem Foto sitzt mein Großvater, die Arme verschränkt, zusammen mit einem Kameraden. Beide wirken gut angezogen und genährt und halten sich offenbar in einer noblen Umgebung auf. Natürlich mag das Foto auch gestellt sein. Die Russen wollten vielleicht zeigen, wie gut sie ihre Gefangenen behandeln. Aber der Gesichtsausdruck der beiden Gefangenen zeigt keinerlei Angst, sondern im Gegenteil höchstes Selbstbewusstsein und Zufriedenheit.
Nach dem Ende des ersten Weltkriegs kam mein Großvater dann im Jahre 1920 über Wladiwostok, Singapur und dem Suezkanal auf dem Seeweg nach Triest und von dort unversehrt wieder nach Hause.
Inzwischen hatte sich in der Heimat einiges geändert. In den Krieg gezogen war er als Österreicher, zurück kam er als Italiener.
Allzu viele Kaiserjäger hatten im ersten Weltkrieg weniger Glück. Die Ankunft in Lemberg war für viele junge Tiroler bereits der Beginn der letzten Phase ihres jungen Lebens, das sie bereits nach wenigen Tagen oder Wochen auf den Schlachtfeldern Galiziens ließen.
Lemberg im Jahre 2018. Ich staune über eine Stadt, die mit ihren Bauten, ihrem Kopfsteinpflaster, ihrer alten, rumpelnden Straßenbahn, wie ein unversehrtes Bild aus fernen Jahrhunderten wirkt. Nur die Bevölkerung ist jung. Und es ist eine Bevölkerung, die diese ihre Stadt auch selbst erst noch richtig kennenlernen muss. Die Mehrzahl der ursprünglichen Einwohner, Polen und Juden, wurden nach dem 2. Weltkrieg vertrieben oder bereits während des Krieges auf unfassbar grausame Art ermordet.
Die in der Stadt lebenden Polen wurden nach dem 2. Weltkrieg zwar nicht ermordet, aber vertrieben. Fährt man nach Breslau, heute Wroclaw, so leben dort viele Nachfahren aus Lemberg vertriebener Polen. Und die dortigen Einwohner, Deutsche, wurden ebenso wiederum Richtung Westen vertrieben.
So bewohnen heute Menschen Lemberg, die die Geschichte ihrer Stadt oder der wunderschönen alten Häuser, die sie bewohnen, kaum kennen.
Bei Gesprächen mit den Einheimischen hatte ich auch oft das Gefühl, man wolle auch gar nicht so genau wissen, wer in diesen Häusern früher einmal gewohnt hat. So scheinen nach dem 2. Weltkrieg fremde Menschen eine wunderschöne Stadt in Besitz genommen zu haben und noch heute an einer Art Geschichtsvergessenheit zu leiden, oder, je nach Sichtweise, sich daran zu erfreuen. Geschichte kann natürlich auch eine Last sein. Dass sich vor den Toren der Stadt während der Nazizeit eines der schlimmsten Konzentrationslager befand, das sogenannte Janowska-Lager, scheint nicht vielen der jetzigen Einwohner bekannt zu sein. Auch fehlt eine Gedenkstätte. Nur eine kleine Gedenktafel an der Janowska-Straße erinnert an dieses Lager. Man wird in Lemberg schwerlich Menschen finden, die über diesen Abschnitt der Geschichte diskutieren wollen. Schon gar nicht will man thematisieren, welche Rolle damals Ukrainer als Helfer der Deutschen in diesem Lager gespielt haben.
So ist Lemberg eine wunderschöne Stadt voller Geschichte, bewohnt aber von Menschen, die, so mein Eindruck, von dieser ihrer Geschichte nicht viel wissen wollen, sondern einfach nur neu starten und das Leben genießen wollen.
Dass es aber nicht so einfach geht mit dem Neustart und dem Genießen, zeigen nicht nur die wirtschaftlichen Verhältnisse (im Jahre 1989 war das Durchschnittseinkommen in Polen und der Ukraine noch ungefähr gleich, mittlerweile ist es in Polen bereits dreimal höher), sondern auch die vielen Bilder von jungen Männern, die schon wieder in einem Krieg gefallen sind. Man vergisst bei aller jugendlichen Ausgelassenheit in dieser Stadt, dass schon wieder ein Krieg im Gange ist, diesmal im Osten der Ukraine gegen Söldner, die von Russland unterstützt werden. Und es ist für den Besucher in Lemberg schockierend, an endlosen Reihen von Fotos toter junger Männer vorbeizugehen und die Briefe ihrer Kinder zu lesen, die sich mit rührenden Worten von ihren Vätern verabschieden müssen.
Lemberg ist eine westlich orientierte Stadt. Singt ein Straßenmusiker englische Lieder, bleiben die Menschen nicht nur stehen, sondern singen mit und zeigen, wie gut sie die englischen Texte kennen.
Lemberg, so scheint mir, ist eine Stadt, die ganz eindeutig zu Europa gehört. Hier findet sich übrigens auch ziemlich genau der geographische Mittelpunkt Europas. Dennoch scheint diese Stadt noch immer in einem Dornröschen-Schlaf zu liegen, was erstaunlich ist, wenn man erst einmal gemerkt hat, welche Faszination dieser Ort auszuüben vermag.
Text und Bilder: Wolfgang Wielander
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