Zuerst Segantini. Geboren im welschtiroler Arco, damals noch österreichisch, terra irredenta, wird der verwaiste, für immer staatenlos gewordene Straßenjunge in Mailand aufgegriffen und in einer Besserungsanstalt interniert. Dort lernt er zuerst das Schusterhandwerk; eine Art Grundausbildung erfährt er an der Kunstakademie Brera. Als 28 jähriger flüchtet er mit seiner Lebensgefährtin und den Kindern vor der österreichischen Einberufung in die Schweizer Berge, wo er irgendwie geduldet und wohl auch geschätzt, sogar verehrt wird. Seine gute, starke Bice konnte er, da ohne Papiere, nie heiraten. Der alte Kaiser in Wien ist von seiner Malerei so fasziniert, dass er ihm die Wehrdienstverweigerung nachsieht. Aber ein banaler Blinddarmdurchbruch hat diesen Baum, erst 41 jährig, zu Fall gebracht. Jetzt gilt dieser ergreifende Symbolist als einer der Großen der Schweizer Kunstwelt.
In ähnlicher Weise wird Franz Tumler in der Welt herumgetrieben. Er verlässt nach dem frühen Tod seines Vaters mit seiner Mutter die Geburtsstadt Bozen in Richtung Linz/Oberösterreich, er besucht erst nach Jahren seine Südtiroler Heimat und schreibt 1935 das Erfolgsbuch „Das Tal von Lausa und Duron“. Hierbei ist nun auch sein Vater zu nennen, der als Gymnasiallehrer und humanistisch gebildeter Wissenschaftler eine vergleichende Grammatik der ladinischen Dialekte beginnt, ein unvollendet gebliebener aber höchst aktueller Ansatz zur Kultur alter Sprachen. Hier begegnet er also wiederum seinem Vater; Tumler lässt in seinen Texten immer wieder dieses genaue Hinschauen erkennen. Ähnlich dem Bildhauer, aus dessen Hände Gestalten wachsen. Zu einer weiteren, unfreiwilligen Begegnung mit seiner Südtiroler Vergangenheit zwingt ihn eine Autopanne in Trient. Der längere Aufenthalt führt zum Nachdenken über seine Tiroler, Südtiroler, Trentiner, österreichische, deutsche Identität.
Eigentlich wollte er nur ein Dichter sein, aber die privaten Umstände wirbelten ihn durch Länder, Ideologien, durch politische Abenteuer. Nur selten fühlte er sich „zu Hause“. Und daheim wohl nie so richtig, es sei denn, in einem seiner Gedichte, wenn er sie langsam und bedächtig und kostbar vorlesen konnte. Manchmal. Dann war er für kurze Zeit ganz bei sich, ganz daheim. Dann ging er mit seinem Vater, den er nie kannte oder mit seinem Großvater in bedächtigen Schritten zum längst verfallenen Sonnenberghof Lagàr. Von dort stammte sein Urgroßvater. Dann schaut er hinunter ins Tal mit dem nervös quirligen Verkehr und den vielen Fabriksneubauten, schaut zurück und verliert sich im alten Gemäuer. Und erinnert kurz daran, dass er bald nach Berlin fahren muss.
Hans Wielander
Zeitung Vinschgerwind Bezirk Vinschgau