Dienstag, 05 Juli 2016 12:00

Neue Wege in der Pflege

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s6 titelVinschgau/Laas/Schluderns - Die Alten- und Pflegeheime von Schluderns und Laas sind derzeit Wohnort für 100 Menschen und bieten insgesamt 115 Arbeitsplätze. Im Jahre 2003 startete der Betrieb einen Kinaesthetics-Lernprozess mit dem Ziel, allen Mitarbeiterinnen die kinaesthetischen Konzepte in der Pflege näherzubringen. Einmal um der Fürsorgepflicht und Gesundheitsförderung gegenüber den Mitarbeiterinnen  Rechnung zu tragen und zum anderen, um den Bewohnern die größtmögliche Eigenständigkeit und Lebensqualität  zu bieten. Mittlerweile hat sich der Betrieb einen besonderen Ruf durch den Einsatz der Kinaesthetics-Konzepte erworben.

von Ludwig Fabi
 
Fast täglich werden wir mit Nachrichten über die Herausforderungen des demografischen Wandels in unserer Gesellschaft konfrontiert.

Finanzierbarkeit der Renten und der künftigen Gesundheits- und Pflegekosten sind nur einige der Schlagwörter. Im Mittelpunkt steht auch die Frage, ob mit der Steigerung der Lebenserwartung auch die Steigerung von Lebensqualität einhergeht? Eine Möglichkeit, die Altersversorgung zu erleichtern und die Steigerung der allgemeinen Bewegungsfähigkeit zu fördern, sind die verschiedenen Kinaesthetics-Konzepte. Die Kinaesthetics ist die Lehre von der Bewegungsempfindung. Die Wahrnehmung der eigenen Bewegung wird als zentraler Weg zur ganzheitlichen Gesundheitsförderung betrachtet. Wenn diese Grundsätze der Kinaesthetics in der Pflege von älteren oder bewegungseingeschränkten Menschen angewendet werden, lassen sich große Erfolge erzielen. Kernpunkt der Kinaesthetics ist es, den zu betreuenden bzw. pflegenden Menschen so zu helfen, dass sie sich selbst helfen können. Der Einsatz der Kinaesthetics-Konzepte ermöglicht es einerseits die Lebensqualität der betreuten Menschen zu steigern und andererseits auch die Pflegearbeit zu erleichtern.

Alles, was Menschen tun, tun sie über Bewegung!
Kinaesthetics ist ein Lernkonzept, das in der Erfahrung der eigenen Bewegung gründet. Es dient zur Weiterentwicklung der persönlichen Bewegungskompetenz. Der Name ist zusammengesetzt aus den griechischen Worten für Bewegung und Wahrnehmung und bedeutet so viel wie „Die Kunst der Bewegungs-Wahrnehmung“. Gelernt wird an Hand der eigenen Bewegungserfahrung. Alles, was wir Menschen tun, tun wir über Bewegung. Das gilt sowohl für willkürliche als auch für unwillkürliche Aktivitäten. Selbst willkürliche, absichtsvoll ausgeübte Aktivitäten geschehen dabei ohne ein klares Verständnis für die ausgeführten Bewegungen. Uns ist nicht bewusst, wie Bewegung funktioniert. So führen wir z.B. beim Trinken ein Glas an den Mund und nehmen sicher einen Schluck. Unser Körper funktioniert einfach auf die Absicht hin. Dass dies nicht selbstverständlich ist merken wir, wenn wir z.B. als Rechtshänder einmal beim Zähneputzen die Zahnbürste mit links führen. Mit Kinaesthetics lernen wir unsere Bewegung bewusst wahrzunehmen, zu verstehen, wie wir uns bewegen. In der Folge sind wir in der Lage, Bewegung gezielt leichter und wirksamer zu gestalten. Diese Fähigkeiten werden als Bewegungskompetenz bezeichnet. Insbesondere für Menschen, die mit Krankheit und Behinderung leben, ist die Entwicklung ihrer Bewegungskompetenz ein entscheidender Beitrag zu selbstbestimmtem Leben.

Auch pflegende Angehörige im Focus
Die kürzlich vorgestellte Studie des Arbeitsförderungsinstitutes „Das Pflegegeld in Südtirol“ belegt, dass 70 Prozent der Pflegegeldempfänger in Südtirol daheim gepflegt werden. Das bekräftigt die Tatsache, dass die allermeisten älteren Menschen möglichst lange selbstständig bleiben, in ihren eigenen vier Wänden wohnen und niemandem zur Last fallen wollen. Pflegende Angehörige sind daher nicht selten überlastet und auf sich allein gestellt. Zudem haben sie nicht so viele Möglichkeiten, sich die notwendigen Fachkompetenzen für die Pflege anzueignen. Daher wurden und werden im Rahmen des Kinaesthetics-Netzwerks Vinschgau auch Kurse für pflegende Angehörige durchgeführt und Selbsthilfegruppen auf Gemeindeebene angeregt. Dies auch darum, weil pflegende Angehörige keine große Lobby haben und selten die befreiende Erfahrung machen, dass es keineswegs egoistisch ist, für die eigene Entlastung zu sorgen. Auch die pflegenden Angehörigen erfahren in den Kursen, dass durch die Steigerung der eigenen Bewegungskompetenz, die alltägliche Unterstützungsarbeit leichter und angenehmer zu leisten ist.

Eine Investition in menschliche Kompetenz
Seit 2003 besuchten knapp 350 Mitarbeiterinnen die verschiedenen Kursmodule, die der Konsortium-Betrieb Laas/Schluderns unter der Federführung der Direktorin Sibille Tschenett in Zusammenarbeit mit der GWR in Spondinig im Vinschgau durchführte. Um die Übertragung und Integration der Kinaesthetics-Konzepte in den Arbeitsalltag zu fördern, wurde zudem die Ausbildung von betriebsinternen Kinaesthetics Peer-Tutoren vorangetrieben. 75 Peer-TutorInnen (64 aus dem Vinschgau, 06 aus anderen Landesteilen und 05 aus dem angrenzenden Münstertal) absolvierten bisher diese weiterführende Ausbildung. Nach der jahrelangen Aufbauarbeit ist es heuer auch gelungen, einen Ausbildungszyklus zum Kinaesthetics-Trainer der Stufe 1 in den Vinschgau zu holen. 17 Mitarbeiterinnen aus allen Landesteilen Südtirols sowie eine Mitarbeiterin aus dem benachbarten Tessin haben sich dieser besonderen Herausforderung gestellt. Insgesamt wurden für alle Kinaesthetics-Bildungsmaßnahmen in den Jahren 2003 bis 2016 ca. 1650 Arbeitstage und die entsprechenden Kosten in diese sinnvolle berufliche Weiterbildung der MitarbeiterInnen investiert.

 

Vinschgerwind: Was waren die Beweggründe, um die Kinaesthetics-Konzepte in der Pflege einzusetzen?
s7 8003Die Konzepte der Kinaesthetics in der Pflege haben uns überzeugt, weil sie einen aktiven Beitrag zur Gesundheitsentwicklung und zur Erhaltung der Bewegungskompetenz der HeimbewohnerInnen und der MitarbeiterInnen leisten. Einmal um der Fürsorgepflicht gegenüber den Mitarbeiterinnen Rechnung zu tragen - sie lernen auf sich zu achten und dadurch Gesundheitsprobleme zu minimieren - und zum anderen, um den Bewohnern die größtmögliche Eigenständigkeit und Lebensqualität  zu bieten – deren Fähigkeiten werden in die alltäglichen Aktivitäten einbezogen, und sie erleben sich als wirksame und wertvolle Menschen. Die Mitarbeiterinnen werden in ihrer Arbeit erheblich entlastet, die Heimbewohner sind mobiler und aktiver am Leben beteiligt. Unsere MitarbeiterInnen und deren Kompetenz sind das größte Kapital unserer Einrichtungen. Deshalb war und ist es weiterhin aus betriebswirtschaftlicher Sicht mehr als sinnvoll, in die kinaesthetische Weiterbildung unserer Mitarbeiterinnen zu investieren.
Vinschgerwind: Was ist notwendig, um ein solches Projekt im gesamten Betrieb zu integrieren?
Die Rahmenbedingungen müssen passen. Es braucht vor allem Verantwortungsträger, die den Prozess mittragen. Dann legt sich auch eine anfängliche Skepsis. Getragen und gelebt wurde der Prozess letztendlich von MitarbeiterInnen an der Basis. Ein wichtiger Erfolgsbaustein sind auch die kompetenten Trainer und Trainerinnen, die wir gewinnen konnten und die uns nun bereits seit vielen Jahren begleiten: Jakob Reichegger aus Latsch, Edeltraud Kiesenebner aus Schlanders und ganz besonders Waltraud Weimann, Lehrerin für Pflege und Kinästhetik-Trainerin aus Deutschland. Mittlerweile haben wir durch unseren konsequenten Einsatz von Kinaesthetics-Konzepten in der öffentlichen Wahrnehmung einen besonderen Ruf erlangt. Das dringt auch nach außen. Die MitarbeiterInnen sind stolz darauf und ich natürlich auch.
Vinschgerwind: Wie arbeitet das Kinaesthetics-Kompetenz-Netzwerk-Vinschgau?
In den ersten drei Jahren haben wir Grund- und Aufbaukurse mit unseren eigenen Mitarbeiterinnen durchgeführt. Damit die Lernprozesse nicht versanden und die Kinaesthetics-Konzepte in den Arbeitsalltag nachhaltig übertragen und gefestigt werden, haben wir seit dem Jahr 2008 die Ausbildung von „Kinaesthetics-Peer-TutorInnen“ - sprich betriebsinterne AnleiterInnen - vorangetrieben. Seit 10 Jahren werden auch die Mitarbeiterinnen der umliegenden Altenheime, der ambulanten Dienste (Hauspflege und Hauskrankenpflege) sowie aus dem Krankenhaus Schlanders eingeladen. So konnte durch die dezentrale Organisation dieser Kurse im Vinschgau vielen Mitarbeiterinnen eine Kinaesthetics-Ausbildung ermöglicht werden. Damit ist es in den vergangenen zehn Jahren gelungen, ein Netzwerk innerhalb der stationären und ambulanten Dienste im Vinschgau und letzthin auch über die Grenzen hinaus in die benachbarte Schweiz zu knüpfen.
Neben der Weiterführung der Schulungsmaßnahmen eröffnen wir im Herbst dieses Jahres das „Kinaestetics-Kompetenz-Zentrum Vinschgau“, in welchem wir interessierten und betroffenen Menschen mit gezielten Maßnahmen kontinuierliche Beratung und Begleitung zum Thema Bewegungskompetenz anbieten werden. Die Mitarbeiterinnen des Zentrums werden bei entsprechenden Anfragen ihre Fachkompetenzen aber auch ambulant draußen in den Dörfern des Vinschgaus oder individuell auch zu Hause anbieten.


Vinschgerwind: Wie haben sie die Ausbildung erlebt?
s7 1280Das Verständnis zu den Kinaesthetics-Konzepten wächst mit jeder Ausbildungsstufe. Die intensive Auseinandersetzung mit der eigenen  Bewegungswahrnehmung setzt erst richtig bei Trainer-Stufe-1 ein. Deshalb ist die Beschäftigung mit der eigenen Bewegung ein langer Prozess, gibt dann aber umso mehr Sensibilität im Umgang mit den Senioren in der täglichen Pflegearbeit.
Vinschgerwind: Wie war die Lernerfahrung?
Bei Kinaesthetics gibt es kein Richtig und kein Falsch. Deshalb war unsere fundamentale Lernerfahrung die, dass es keine allgemeingültigen Lösungen und Vorgaben gibt, sondern das Erforschen von verschiedenen Varianten, die Leichtigkeit in der Bewegung ausmachen. Ein Beispiel dazu: Wir können nicht nur stehen, wir sind ständig damit beschäftigt, nicht umzufallen. Jeder macht diese Erfahrung z.B. beim Stehen auf einem Bein.
Vinschgerwind: Wie ist die Umsetzung in der Praxis?
Mit den Kinaesthetics-Konzepten fördern wir die kontinuierliche Entwicklung neuer Bewegungskompetenzen für unsere Heimbewohner. Dies kann zum Beispiel dadurch geübt werden, indem ein Glas in der Mitte des Tisches platziert wird, damit der Bewohner die Bewegungskompetenz erlernt oder wieder erlangt, das Gewicht nach vorne zu verlagern, damit er das Glas erreicht. Ein weiteres konkretes Beispiel für die Umsetzung in die Praxis: Einige Bewohner sitzen fast den ganzen Tag im Rollstuhl. Wir haben gelernt, dass der Rollstuhl ein Transportmittel ist und setzen die Bewohner mehrmals am Tag vom Rollstuhl in einen normalen Stuhl. So sitzen z.B. unsere Senioren beim Essen auf den Stühlen mit einem Fusshocker unter den Füßen, damit Bodenkontakt gewährleistet ist.

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