Warum ich die beiden „Politiker“ in einem Zug nenne? Weil ich zur Zeit im Bürgerheim von Schlanders, das den Namen des Heiligen Nikolaus von der Flüe trägt, eine Genesungskur mache, hier bestens versorgt werde und viel lese. So etwa das Buch von Hans Karl Peterlini über den Politiker Hans Dietl; es ist die Biografie eines Südtiroler Vordenkers und Rebellen, mit Auszügen aus seinen Tagebüchern. Dort finde ich eine ganze Reihe von Übereinstimmungen zwischen den beiden Politikern. Die auffälligste ist vielleicht der Kinderreichtum. Beide hatten sie mehr als 10 „Kinder“, für die gesorgt sein wollte, was sie bestens in ihr Politikerleben einbezogen haben. Jedenfalls gilt das für Hans Dietl. Seine Frau Martha Lechner hat ihn rundum abgeschirmt, sodass er sich für das Familienleben neben der Politik immer genügend Zeit nehmen konnte. Anders dürfte es beim Bruder Klaus gelaufen sein, zumal der Mystiker und Asket sich im Einverständnis mit der Ehefrau von seiner Familie trennte. Nikolaus von der Flüe widmete sich also seiner religiösen Sendung und lebte als Eremit in der Nähe seines Heimathofes in ärmlichen Verhältnissen. Der Flüeli ist ein großer Felsstock bei Sachseln im Kanton Obwalden; die eigentliche Einsiedelei befindet sich in einer Schlucht, in der Ranft. Dort lebte der Einsiedler in einer selbst gebauten Blockhütte, wohin heute noch fromme Verehrer pilgern.
Bei der Namenssuche für das neu erbaute Bürgerheim von Schlanders fiel die Entscheidung auf den schweizer Nationalheiligen, um an die alte Verbindung unseres Tales mit dem westlichen Nachbarkanton und dem Bistum Chur zu erinnern, zu dem der Vinschgau mit Meran und Teilen von Passeier bis ins 19. Jahrhundert gehörte. Der Bruder Klaus hat sogar im Krieg tapfer mitgekämpft, galt aber vor allem als Friedensstifter. Er hat es vom Bauern zum Hauptmann, Ratsherrn und Richter gebracht. Er bekam den Ehrentitel „Vater des Vaterlandes“.
Für Dietl müsste ein anderer Titel erfunden werden und zwar „Vater der Autonomie“. Was für den Mystiker die täglichen Bußübungen bedeuten mochten, waren für Dietl die politischen Quälereien. Erfolge und Misserfolge wechselten ohne Gnade, die Reaktion des Politikers wird überall spürbar in den genauen Eintragungen des Tagebuches. „Politische“ Meditationen über das Für und Wider, Konfrontation - auch mit den „Carabinieri“- bis vors Gericht, immer wieder Vermittlung und die Mahnung, dass wir den Dialog mit den italienischen Gegnern suchen müssen.
Entscheidende Jahre des Ringens um die Autonomie. Es sind private Notizen, Momentaufnahmen der politischen Intrigen, überraschende Bemerkungen eines Vorausdenkers. Sehr persönlich und natürlich ganz spontan wird über das harte Geschäft der Politik geschimpft oder gewitzelt, wobei der Hans auch die kleinste Nebensächlichkeit festhält. Auch Bosheiten. Wenn er zum Beispiel die Haltung eines Politikers beobachtet, der sich bei der „Kirche“ einschmeicheln möchte: Eifriges Kniebeugen in jede Richtung und doppeltes Kniebeugen vor dem ausgestellten Allerheiligsten.
Hans Dietl war ein einfacher, ehrlicher Christ, der sich allerdings niemals der politisch mächtigen Kirche angebiedert hat und sogar Konflikte mit dem Bischof riskierte. „Das Kreuz mit der Kirche“ wird eines der 30 Kapitel des 460 Seiten starken Buches überschrieben: Kampf um Einfluss auf Politik, Bauern und Jugend. Als unendlich vielfältig erweist sich das Leben eines Politikers und Familienvaters aus jenen fernen Jahren, als sich noch alle - besonders auch die Jugend - mit politischen Anliegen befassten. Merkwürdig der Kontrast zur Politikmüdigkeit unserer Zeit; dabei waren die sozialen Probleme damals ganz ähnlich und mussten ebenfalls gemeinsam gelöst werden.
Der hochgewachsene, hagere Politiker Hans Dietl (1915-1977) glich äußerlich einem Asketen. Er musste auf seine Gesundheit Rücksicht nehmen, musste sich immer wieder in die innere Emigration begeben und hat darüber genauestens in seinem Tagebuch berichtet. Sein den praktischen Dingen zugewandtes Lebens unterscheidet sich vom Einsiedler Nikolaus, der nichts Schriftliches hinterlassen hat und der 1487 im Alter von 70 Jahren verstorben ist. Von ihm kennen wir nur eine Meditationstafel, in die er sich betend versenkt hat. Nikolaus von der Flüe war ein religiöser Mystiker, der durch sein Fasten gegen die Völlerei und Fresslust seiner Zeit wirken wollte. Angeblich nahm der Bruder Klaus in den letzten 19 Jahren seines Lebens nichts mehr zu sich, außer der heiligen Kommunion. In der Hauskapelle des Bürgerheimes von Schlanders hat Robert Scherer wichtige Abschnitte des Heiligenlebens szenisch dargestellt; auf einem Bild sehen wir die Weihe der Ranft-Kapelle durch den Weihbischof von Konstanz und Prüfung des wunderbaren Fastens.
Ein Wunder war auch die Einigung der Schlanderser Bürger bezüglich der Errichtung des Bürgerheimes. Es wurde nämlich lange herumgeraten und gestritten, wo diese große Einrichtung entstehen soll, hier in der Nähe des Krankenhauses, der Lebenshilfe und des alten Spitals oder ganz neu im Kasernenareal beim Bahnhof, das der Gemeinde gehört. Und dann kam die Entscheidung, wobei die Hauskapelle mit den wertvollen Malereien und Glasfenstern eine nicht geringe Rolle gespielt hat. Schon lange haben fromme Gläubige diesen sakralen Raum ins Herz geschlossen. Hier befindet sich also eine bereits von der Bevölkerung angenommene und geliebte Kirche, in der sich einheimische Unternehmer als Förderer verewigten.
Und hier geschieht täglich ein Lichtwunder ... am Vormittag wirft die Sonne von Osten Farbwogen über den Innenraum, vermischt die Farben des Betonglasfensters mit dem großen Franziskusfresko ... alles wirbelt durcheinander, wie die Reden erregter Politiker oder wie blitzende Waffen der kämpfenden Bündner.
Das Bürgerheim Nikolaus von der Flüe verfügt heute über all die wichtigen Einrichtungen eines sozialen Hauses, in dem es sich gut leben lässt eine hochmoderne Küche, über eine ebenfalls effiziente Wäscherei. Das wird hier erwähnt, weil das gar nicht so selbstverständlich ist und erst durch eifriges Bemühen politisch vermittelt und entschieden werden konnte. Anstatt die pflegebedürftigen Bürger an die Peripherie des Ortes zu verbannen, entstand hier ganz selbstverständlich ein neues, modern gestaltetes Zentrum der Begegnung mit vielen auch künstlerisch gestalteten Räumen.
Dabei spielt die Hauskirche eine wichtige Rolle. Rot, die Farbe der Liebe, „zuckt“ wie der Herzschlag durch das ganze Bildprogramm. Und in der rechten Bildhälfte rechts erkennen wir zwischen Fischen und Vögeln die heilige Klara, die große Helferin; sie war für den heiligen Franziskus das, was die Mutter Martha für ihre Familie war und für ihren Dietl Hans.
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