Morter/Montani/Nibelungenhandschrift - Wie kommt die Literatur zum Menschen? Heute gehen wir in eine Buchhandlung oder Bibliothek und haben die Qual der Wahl. Früher, also im Mittelalter, war das viel einfacher: Da kam einer auf eine Burg, wurde feierlich mit einen guten Trunk begrüßt, denn man wusste, er bringt politische Neuigkeiten und Hoftratsch, aber auch unterhaltsame Literatur. Vermutlich hatten die Zuhörer nicht die Qual der Wahl. Und weil die wenigsten Ritter und Ritterfräulein damals lesen konnten, musste er mündlich vortragen, vermutlich in einem feierlich gehobenen Sprechton. Der Besuch eines „Sängers“ war ohne Zweifel jedes Mal ein Fest in dem oft einförmigen Leben. So kam also einer auch auf Schloss Montani und sagte: „Wie ich euch kenne, sind euch viele alte Sagen bekannt. Ich habe einige gesammelt und ein tolles Werk daraus gemacht, später wird man es „Das Nibelungenlied“ nennen. Ihr werdet staunen!“
Uns ist in alten mæren
wunders vil geseit
von helden lobebæren,
von grôzer arebeit,
von fröuden hôchgezîten,
von weinen und von klagen,
von küener recken strîten
muget ir nu wunder hœren sagen.
Das ist nur die erste Strophe, aber die hat es in sich! Sie ist das „Vorwort“ zum großartigen Werk.
Wer seine Rede nicht mit „mir“ beginnt, sondern mit „uns“, der schließt die Zuhörerschaft mit ein; und er verspricht: „Ihr werdet sagen hören“. Mittelalterliche Literatur ist Vortrags-, nicht Leseliteratur. Der Vortragende bringt Literatur „zu Gehör“, er schafft sich eine festlich gestimmte Hörgemeinschaft, indem er sie in das gemeinsame Vorwissen einbezieht. Denn wenn er sich auf alte mæren, also alte Sagen beruft, geht er davon aus, dass z. B. die Sagen um Brunhild aus Island, Kriemhild aus Worms und Etzel aus dem Hunnenland dem Publikum bereits bekannt sind, das nun gespannt auf die Art der Ausgestaltung und Darbietung wartet. Der Sänger – nennen wir ihn einmal so – beruft sich also auf „Quellen“, er erhebt nicht den Anspruch, Urheber der Sagenstoffe zu sein; im Gegensatz zu heutigen originalitätssüchtigen Autoren sieht er sich bewusst in einer inhaltlichen Tradition. Sein Ehrgeiz ist es, mit kunstvollen Versen und gekonntem Vortrag Spannung aufzubauen und die Hörerschaft zu fesseln. Dafür darf er Belohnung erwarten: „Lass mir den besten Becher Weins in purem Golde reichen!“ (Goethe, Der Sänger). Es musste wohl nicht Gold sein, aber ein verstohlen lieber Blick eines Ritterfräuleins als Zugabe konnte nicht schaden!
Welche Inhalte sind zu erwarten? Sie werden kompakt aufgezählt: Erst einmal ruhmreiche (lobebære) Helden. Wir leben ja in der Blütezeit des Rittertums! Aha, sagen die Zuhörer und Hofdamen, jetzt kommen Siegfried, Gunther, Hagen, Etzel, Hildebrand...! Wenn das Wort „Helden“ fällt, muss man mit dem Schlimmsten rechnen, mit großer Mühsal (arebeit), mit blutigen Kämpfen (strîten) kühner Recken, und so kommt es auch. Aber die Frauen werden ihnen in nichts nachstehen, sie kommen in der ersten Strophe nur noch nicht vor. Brunhild und Kriemhild sind misstrauisch – welche Rolle spielte z. B. Siegfried in der Hochzeitsnacht von Brunhild? Sie sind eifersüchtig und gierig nach Macht und Reichtum – das im Rhein versenkte Gold wird heute noch gesucht! Es sind diese Frauen, die schließlich alle ins Unglück stürzen. Weinen und Klagen ist vorprogrammiert, wer sich Minne erwartet hat, wird enttäuscht!
Neben den Tiefen gibt es aber auch Höhen: fröuden, also freudige Ereignisse, hôchgezîten, das sind festlich erhöhte Zeiten: An den Höfen und auf den Burgen werden Abgesandte und Gäste empfangen, Minnesänger begrüßt, Turniere abgehalten, es wird Musik gemacht und getanzt, um Abwechslung und Freude in den sicher oft tristen Alltag auf einer Burg zu bringen.
Aber letztlich bleiben Mühsal, Kämpfe, Tränen und Schmerz die tragenden Motive des Epos. Schicksalsgläubigkeit, Hass, Intrige, Machtgier und Rachsucht führen schließlich alle ins Verderben. Auch wenn man in Worms in die Kirche geht – kein germanischer Held stirbt mit einem Stoßgebet auf den Lippen!
Der Erzähler nennt das zu Recht „wunder“, er meint damit Erstaunliches, Erzählenswertes, was er dem gespannten Publikum zu „sagen“ verspricht, das braucht seine Zeit. Der „Sager“ genießt sicher mehrere Tage lang die Gastfreundschaft auf Montani, bis er die circa 2400 Strophen des „Nibelungenliedes“ zu Gehör gebracht hat. Ob er frei vorgetragen oder schon schriftliche Unterlagen benutzt hat? Den Schreibkundigen sei jedenfalls Dank, dass sie den großen Stoff kunstvoll niedergeschrieben und uns in mehreren wunderbaren Handschriften übermittelt und bewahrt haben!
So, das war jetzt nur die erste Strophe, nun aber auf nach Worms am Rhein, da warten schon Kriemhild, Gunther, Gernot und Giselher mit ihrer Mutter Ute – lest selber!
Erich Daniel