Schlanders erzählt... Märchenherbst

Maerchenherbst24

 
 
Montag, 06 Juni 2016 09:26

Die Schreiberin

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s30 4In Meran habe ich eine Frau kennen gelernt, die einer besonderen Freizeitbeschäftigung nachgeht. Sie liest Tageszeitungen, Wochenzeitschriften, Bezirksblätter und Bücher und sucht in den verschiedenen Schriften nach Lebensweisheiten, Sprüchen und Geschichten, die aufmuntern, Halt und Orientierung geben. Diese Texte schreibt sie dann fein säuberlich und übersichtlich ab. „Schreibübungshefte“ nennt sie ihre Arbeiten. Das klingt wie eine Strafarbeit, die sie sich selber gibt, aber es ist viel mehr.

Schreiben ist eine Form des gründlichen Nachdenkens, der Meditation, es ist Nahrung für die Seele und den Geist, bis ins höchste Alter. Fast jeden Tag ist sie damit beschäftigt. Insgesamt 37 Schreibübungshefte hat sie bereits vollgeschrieben. In den Heften findet man nicht nur Ausschnitte von  Kommentaren der Südtiroler Chefredakteure, auch Auszüge aus Büchern von Paulo Coelho, Anselm Grün oder Anthony de Mello sind dort nachzulesen, genauso wie mehrere Gedichte von Hermann Hesse. Damit ist sie vielleicht die fleißigste und aufmerksamste Leserin des Südtiroler Blätterwaldes. Wahrscheinlich ist sie auch eine der ältesten Leserinnen. Sie ist fast 100 Jahre alt, hört schlecht, strahlt s30 2in ihrer Bescheidenheit aber große Zufriedenheit und Dankbarkeit über jede kleine Überraschung aus. Das Gehen macht ihr Mühe, deshalb sitzt sie lieber in ihrem Zimmer und beobachtet von ihrem Balkon aus das Kommen des neuen Frühlings und die Farbenpracht der frischen Blumen. Sie will nicht mit ihrem Namen genannt werden, deshalb ist sie für mich einfach „die Schreiberin“. Ihre Mutter stammt aus dem Vinschgau. Im Etschtal ist sie aufgewachsen, aber die Beziehung zum Vinschgau ist immer noch sehr stark. So wie mittelalterliche Mönche in den Skriptorien, den Schreibstuben, die Bücher abschrieben, so sitzt meine Schreiberin in ihrem Zimmer und schreibt die Texte ab. Mit Geduld, großer Konzentration und großem Fleiß. Im Mittelalter war das Schreiben das Privileg der Mönche. Normale Bürger s30 5konnten nicht schreiben. Die Mönche kopierten Handschriften und Bücher und bewahrten sie in Klosterbibliotheken auf. So wurden sie zur geistigen Elite ihrer Zeit. Zurückgezogen im Kloster, abseits vom Alltagsleben, haben die Mönche durch das Abschreiben der Bücher die geistige Welt des Mittelalters für die Nachwelt aufbewahrt. Das ist heute nicht mehr notwendig. Bücher werden gedruckt, nicht mehr abgeschrieben. Die Finnen wollen die Handschrift abschaffen. Im Lehrplan für Grundschulen in Finnland sind ab Herbst 2016 Schreibschriften nicht mehr zwingend vorgeschrieben. Künftig sollen die Kinder vor allem auf Tastaturen und Tablet-PCs schreiben bzw. nur noch die Druckschrift erlernen. So war es in mehreren Medien zu lesen. Geht mit der Abschaffung der Schreibschrift nun eine Schule der Individualität verloren, siegt die technische Kommunikation über den lebendigen Ausdruck der Seele? Diese Frage habe ich in einem anderen Zeitungsartikel gefunden. Bei uns ist es noch nicht so weit, obwohl kaum noch persönliche Briefe geschrieben werden. Anstatt Postkarten werden SMS oder Mails aus dem Urlaub verschickt. Anstatt Texte schickt man lieber Bilder und Audiobotschaften. Erst durch das Schreiben war es den Menschen möglich, Wissen festzuhalten, zu sammeln und zu überliefern. s30 6Lesen, Rechnen und Schreiben waren die wichtigste Grundlage für den Aufbau einer Kultur- und Wissensgesellschaft. Es sind die zentralen Kulturtechniken. Wir sollen sie nicht vergessen, auch nicht vernachlässigen, auch wenn heute der Umgang mit den neuen Medien zur neuen Kulturtechnik gehört. Aber dürfen wir deshalb die Handschrift, das Schreiben  vernachlässigen? In den Schreibübungsheften meiner Schreiberin habe ich Antworten auf diese Fragen gefunden:

 „Schreiben heißt: sich selber lesen“ schrieb Max Frisch. In diesem Sinn könnte uns das Schreiben eines Lebensbuches ein Gespräch mit uns selbst eröffnen. Nehmen sie ein Schreibheft und tragen sie alles ein, was ihnen wesentlich erscheint: Gedanken, Zitate, Gelesenes, Bemerkenswertes und Verrücktes. Fühlen sie sich frei, ihre Form zu finden, indem sie Texte schreiben oder Geschichten. Der Freiheit sind keine Grenzen gesetzt.
In China gilt die Kalligraphie, das Schönschreiben als Kunst, so wie die Malerei oder die Musik. Auch im arabischen Raum hat die Kalligraphie besonders durch das Bilderverbot einen sehr hohen Stellenwert. Bei uns schreiben viele ein Tagebuch.  Über sechzig Prozent aller jungen Frauen zwischen 15 und 24 Jahren schreiben angeblich Tagebücher, bei Männern sind es in diesem Alter nur 20 Prozent. Ich hoffe, dass meine Schreiberin weiterhin Bücher und Zeitschriften liest und sich auf die Suche macht nach Weisheiten, klugen Gedanken und aufmunternden Sprüchen. Und diese dann fein säuberlich abschreibt und in ihren Schreibübungsheften sammelt.
Heinrich Zoderer

Zum Schluss noch einige Weisheiten, gesammelt und abgeschrieben von meiner Schreiberin aus Meran. Lesen Sie die Texte, meditieren Sie darüber und wenn sie Lust haben, schreiben Sie diese Texte einfach ab, hängen Sie die Texte auf oder bewahren Sie sie irgendwo auf...

s30 3Ein neues Leben kann man nicht anfangen, aber täglich einen neuen Tag. Das Wesentliche des Lebens lässt sich nicht erklären, aber spüren. Was sich dem Verstand entzieht, offenbart sich einer aufmerksamen Seele. Weisheit bildet sich durch den Umgang mit dem Unbegreiflichen. Zum Glücklich sein gibt es nur einen Schlüssel: die Dankbarkeit. Jede Begegnung, welcher Art auch immer, trägt eine Botschaft in sich. Schreiben ist eine der wirksamsten Möglichkeiten, in sich einzukehren, um aus sich herauszukommen. Schreiben bringt Ordnung in den Wirbelwind von Gedanken und Gefühlen. Ein Anker für neuen Halt und Zufriedenheit ist immer die Natur. Wer alle seine Sinne öffnet und bereit ist, die zahllosen, schönen Aspekte einer naturbelassenen Landschaft in sich aufzunehmen, der ist auf dem richtigen Weg zur inneren Ruhe. Die Erfahrung der Schönheit ist ein Spaziergang für die Seele. Denke nicht sofort an das, was dir fehlt, sondern an das, was du hast. Das Leben ereignet sich nur hier und jetzt. Jede Minute lässt sich in eine unvergleichliche Möglichkeit verwandeln. Es liegt im Stille sein eine wunderbare Macht der Klärung, der Reinigung, der Sammlung auf das Wesentliche. Es wachse in dir der Mut dich einzulassen auf dieses Leben, mit all seinen Widersprüchen, mit all seiner Unvollkommenheit. Das Leben wird ein Fest, wenn du dich freuen kannst an den einfachen Dingen. Tu deinem Leib etwas Gutes, damit deine Seele Lust hat, darin zu wohnen. Das Geheimnis des Lebens ist, die Dinge sehr leicht zu nehmen. Wenn der Mensch seine Aufgaben dankend annimmt, kann er Sinn und Erfüllung finden. Wo Wasser ist, kann eine Oase wachsen. Lasst uns kleine Wasserträger sein in einer großen Wüste. Ein Tropfen Wasser kann einer Blume die Kraft geben, sich wieder aufzurichten. Ein Tropfen Liebe wird Menschen Kraft zum Leben verleihen, Mut und Vertrauen. Was ich nicht sah: über viele Jahre reiste ich durch zahlreiche Länder, sah die hohen Berge, die Ozeane. Nur was ich nicht sah, war der funkelnde Tautropfen im Gras gleich vor meiner Haustür. Jeder Mensch kann Quelle von einer Gabe sein, die zu Dankbarkeit führt und sei es ein Blickkontakt am Bett eines schwer kranken Menschen. Lerne s30 1loszulassen, das ist die große Lektion des Lebens. Versuche niemals, jemanden zu dem zu machen, was du bist. Auf der Suche nach dem großen Glück vergessen wir oft, dass es die kleinen Dinge sind, die uns wirklich glücklich machen. Sei, der du bist, nicht mehr, nicht weniger, aber der sei. Seid wie ein lebendiger Baum, der ständig neue Triebe entwickelt. Wenn ihr lernt mit euch selbst auszukommen, wird es euch gelingen, auch mit jedem anderen auszukommen. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Lass nie Gewohnheiten dein Tun beherrschen. Für mich sind die sieben Weltwunder: sehen, hören, sich berühren, riechen, fühlen, lachen, lieben. Die kostbarsten Sachen im Leben sind jene, die nicht gekauft und nicht hergestellt werden können. Lärm macht heimatlos. Erst wenn wir zur Ruhe kommen, können wir Kontakt mit unserem inneren Menschen aufnehmen. Ein Lächeln kostet nichts, es erzeugt aber viel.

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