Die naheliegendste Investition auf Montfer wäre ein Lift. Und zwar abwärts. Die Techniker des Landes müssen ihre Gründe gehabt haben, dass sie vor 30 Jahren die Zufahrtsstraße über dem Hof enden haben lassen und nicht darunter. Somit fährt, wer mit dem Auto von Katharinaberg herauf kommt, dem Haus gewissermaßen aufs Dach. Es gibt hier nur ein Oben und Unten. Eben aus ist nichts. Wir steigen, mehr als wir gehen, zwei Kehren hinab und stehen am Hauseingang. Aus diesem kommt uns Edith entgegen. Sie ist die Bäuerin hier, und später wird sie uns verraten, dass ihr unser anfänglich skeptisches Schauen ganz normal vorkomme. „Das ist bei allen“, hat sie die Erfahrung gemacht. „Wenn Gäste zur Tür hereinkommen, schauen sie zuerst alle ein bissl komisch. Dann führe ich sie die Stiege hinauf, und die Gesichter hellen sich schon auf. Und wenn ich ihnen erst die Zimmertür auftue, spätestens dann tut’s ‚ahh!’“ Dann sei noch jeder Gast gewonnen gewesen.
Wir gehen in die Küche. Es ist eine Küche, die andernorts, so überhaupt noch vorhanden, die „alte Küche“ hieße: gewölbt und pechschwarz, ein Firmament bei Nacht. Hier ist sie noch Lebensmittelpunkt. Für bis zu 20 und mehr Leute wird hier gekocht, gewaschen und gesorgt. 12 Kopf hoch ist allein die Familie. Es sind dies die heutigen Bauersleute Eduard und Edith Ilmer mit den sechs Kindern und dazu der überlebende Teil der Altbauersfamilie Brugger. Das Ehepaar Sepp und die Tres, sowie der Jörg und noch eine Tres, beide Verwandte, und halt übrig geblieben am Hof. Die beiden Söhne der Bruggerischen sind tödlich verunglückt. „Unten“, sagt Edith. Sie meint damit: Der Hof war’s nicht. Der eine starb 18-jährig mit dem Auto, der andere 23-jährig mit dem Motorrad. Landesschicksale.
Montfer hoch über Katharinaberg im Schnalstal: Es gibt hier nur ein Oben und Unten. Eben aus ist nichts.
Wie Menschen doch zu Bergbauern werden können! Edith und Eduard stammen beide von einem Hof, wie das die Mehrheit der Südtiroler tut, aber Bauern waren sie selber nicht. „Freude an der Bauerschaft“, das ja, hatten sie. Eduard kommt aus Tschars, im Vinschgau draußen, wo die Apfelplantagen sind und noch Wein wächst; Edith von Karthaus, Schnalstal einwärts. Sommers haben die beiden zusammen gealmt. Auf Schnalser Almen und in Osttirol sogar. Es kamen die Kinder, mit jedem zusätzlichen wurde das Herumziehen, Alm auf, Alm ab, immer beschwerlicher, das Paar nahm sich vor: „Wenn irgendwo ein Hof frei wird, schauen wir sesshaft zu werden.“
1996 war es soweit. Verwandte sagten, „Wir wüssten etwas für euch“. Es war der Montfer-Hof über Katharinaberg. Die Bauersleute hier hatten sich entschlossen, den Hof zu verpachten. Nicht aber deshalb wegzuziehen. Zusammen mit den beiden Buben und noch zwei Verwandten wollten sie auf Montfer bleiben. Das Haus ist groß genug, waren beide Seiten der Ansicht. Man wurde sich einig. 1996 zogen die Ilmers auf Montfer ein. Als Pächter.
Es folgen grausame Jahre. Kurz nacheinander sterben die Buben der Besitzerfamilie. Verkehrsunfälle. Die Eltern, Sepp und Tres, an Jahren noch jung, sehen für sich keine Zukunft mehr. 2007 verkaufen sie den Hof an die jüngere Pächterfamlie. „Verkaufen unter Anführungszeichen“, räumt Edith Ilmer ein. Es fließt nicht Geld. Die Käufer versprechen der Verkäuferfamilie das Wohnrecht und auf sie zu schauen, solang sie leben. So ist es nun: ein Kondominium am Bergbauernhof. Man lebt zusammen. Und „das Zusammenleben muss man üben“. So weise sagt Edith das. Zehn Jahre lang haben sie jetzt „geübt“ auf Montfer, „und jeder hat inzwischen ein Gespür dafür, wie weit er gehen kann und wo die Grenzen sind“.
Die „neuen“ Bauersleute zeigen großes Einfühlungsvermögen. Die Altbauern müssen den „Rücktritt“ erst noch verwinden. Die Katastrophe mit den Buben lässt ihn schicksalhaft erscheinen. Die Mutter kam leichter darüber hinweg. Dem Vater geht es näher. Seine Familie, die Bruggerischen, waren jahrhundertelang Bauern auf Montfer. Am Hauseingang hängt das Erbhof-Wappen des Landes. In der Stube die Urkunde, größer als die Fenster und unterschrieben vom Landeshauptmann. Eine Bergbauern-
Dynastie ist einvernehmlich zu Ende geführt worden. Ihre letzten Repräsentanten leben am Hof, die beiden Tresn und der Jörg helfen mit, Sepp, der Altbauer, führt auf Nachfrage Gäste durchs Haus und auf Wanderwegen. Bauer sind jetzt aber andere.
Die Ilmers. Welche Poesie, Edith in der Küche zuzuhören! „Wir mit den Tieren und der Landschaft natürlich leben.“ So knapp und präzise beschreibt sie die Daseinsweise auf dem Hof. Den Kindern – Markus, Martina, Michael, Monika, Marius und Maria, zwischen 23 und 8 Jahre – gefällt es daheim. „Sonst würden sie wohl ausziehen“. Eine trockene Logik für eine Mutter. Die drei großen Kinder arbeiten bereits im Tal unten. Abends kommen sie heim. Monika hilft daheim mit. Die beiden Kleinen tun in der Stube „Computer spielen“. Die Ilmers auf Montfer leben wohl fast über den Wolken, aber keineswegs hinterm Berg. In der Stube stehen fünf Laptops, alle aufgeklappt. „Die Kinder müssen das nicht lernen, die können das schon“, findet die Mutter. Sie selber hat es auch noch erlernt. „Weil man es braucht“, sagt sie bedauernd, lieber würde sie „den ganzen Tag Steine tragen“.
Wie begeistert und gleichzeitig wie abgeklärt Edith von ihrem Bauersein spricht! Man ist hier Bio, „logisch, sonst wären wir umsonst so weit herauf“. Glück ist, dass der Meraner Höhenweg am Hof vorbeigeht, ein beliebter Fernwanderweg, der deutsche
Gäste bringt. Diesen wird aufgetischt, was der Hof hergibt: Fleisch aus dem eigenen Stall, alles von der Milch, Erdäpfel, das Korn reicht zugegebenermaßen „nur für die Seele“. Der Roggenacker ist kleiner als die Stube. Früher wurde auf Montfer noch die ganze klassische Kornpalette angebaut: Roggen, Weizen, Hafer und Gerste. Der Altbauer Sepp erzählt bis ins Detail, wie selbstversorgt damals gelebt wurde. Die Neubauern haben von dem immerhin noch die Rituale bewahrt. Weiterhin ist das Brotbacken ein Weiheakt, die Feste werden noch „gehalten“. Ob eines von den Kindern Bauer werden wird? „Kann man nicht sagen“, sagt die Mutter. Sie ist deswegen nicht traurig. Sie hat eines gelernt in ih- rem wechselreichen Leben: „Man kann über Menschen nicht bestimmen.“
Draußen ist dichter Nebel aufgezogen. Man sieht kein Oben und Unten mehr. Drei Wanderer, die auf Montfer übernachtet haben und nach Katharinaberg absteigen wollten, sind vor dem Haus wieder umgekehrt und zurück in die Stube. Eduard, der Bauer, hat sich „unten“ verspätet. Er wird warten, bis „man wieder was sieht“, telefoniert er der Frau herauf. Waghalsige Verhältnisse hier oben. Das ist der Moment, wo ich es wage, Edith eine gemeine Frage zu stellen: Würde sie, frage ich, wenn sie unten irgendwo einen schönen Hof bekäme, würde sie mit hier tauschen und hinuntergehen. „Nie!“, antwortet sie. Entschlossen, als sei es eine Selbstverständlichkeit, dieses Schwalbennest noch über Schnals für den Himmel selbst zu halten.
Florian Kronbichler
(Auszug aus dem Buch „die Kunst, von oben zu leben“)
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