Der Bischof von Antwerpen, Johan Bonny, hat dem Papst einen Brief geschrieben. Das war vor der kürzlich in Rom abgehaltenen Synode. Er fragt den Vatikan, wie sich die Kirche gegenüber geschiedenen und wieder verheirateten Paaren verhalten sollte? Hauptsächlich geht es um die Kommunion. Darf oder soll der Priester den Empfang dieses Sakramentes verweigern? Die Geschiedenen missachten das Sakrament der Ehe und leben in einem unerlaubten Dauerverhältnis. Meist besteht auch keine Absicht, diesen Zustand zu ändern. Wenn nun ein frommes Elternpaar weiterhin der kirchlichen Gemeinschaft angehören möchte, also auch durch den Empfang der heiligen Kommunion, dann ergeben sich scheinbar unlösbare Konflikte. Die Kinder einer katholisch geprägten Familie wundern sich vielleicht darüber, warum der Mutter oder dem Vater das begehrte Sakrament verweigert wird.
Der Bischof Bonny aus dem fernen Belgien, 1955 in Ostende geboren, also verhältnismäßig jung, weist in seinem Brief auf den Umstand, dass wenige Gläubige in den Großstädten den Gottesdienst besuchen, dass die Kirchen leer sind und die Kirche kein Erbarmen zeigt. Auch Barmherzigkeit ist ein kirchliches Gebot.
Aber In diesem Fall ist das juristische Denken wichtiger. Sonst, so wird argumentiert, kommt alles ins Wanken, es beginnt ein allgemeiner Erdrutsch … etwa vergleichbar den drohenden Schäden durch den Permafrost: Durch die Erwärmung, durch das Auftauen der gefrorenen Böden wird alles locker, beginnt zu gleiten, stürzt in die Tiefe, um nicht zu sagen „in die Hölle“.
Der November bringt das Ende des Wachstums, die Sonne zieht sich zurück, letztes Erntefest, letzter Markttag in Glurns: „Sealamorkt“… die Welt der Götter und der Menschen kommen sich bei wachsender Dunkelheit besonders nahe. Die Kelten, so berichtet Caesar, rechnen in Winternächten … Weihnacht, Fasnacht. Die Verstorbenen, die nach germanischer Mythologie eigentlich nie ganz tot sind, bekommen um Allerseelen die Erlaubnis, für einige Tage zurück auf die Welt zu kommen, zu den Angehörigen und vertrauten Plätzen. Dieser Glaube wurde teilweise durch das Christentum übernommen und lebt weiter. Also begrüßen wir unsere Ahnen mit Lebenssymbolen, mit Lichtern, mit Feuer, beten für sie und reden mit ihnen.
Unser Allerseelen folgt in vieler Hinsicht dem heidnischen Julfest, dem Fest der Wiedergeburt. Damit wurde alles neu „programmiert“, neu umgerührt, wie in einem großen Kessel. Alles enthält Leben. Für die Kelten und die Germanen gibt es eigentlich nur Verwandlung, Übergang. Diese heidnische Tradition lebt in Amerika weiter unter dem Namen Halloween, was übersetzt etwa „Allerheiligennacht“ bedeutet. Auch dort ist es ein Erntedankfest, verbunden mit allerhand volkstümlichem Klamauk. Der ausgehöhlte Kürbiskopf mit dem Kerzenlicht ist zwar nicht mehr christlich zu verstehen, wohl aber als Symbol für Fruchtbarkeit.
Über heidnische Relikte im christlichen Brauchtum schreibt Thea Hofer in ihrer Diplomarbeit ausführlich, wobei sie auch einige, meist unterschlagene, Aspekte dieser noch immer wirkenden Kultur herausarbeitet. Zum Beispiel, dass es für die Germanen keine Hölle mit ewiger Pein gibt, keinen Ort der moralischen Rache. Die „Hel“ - daher unser Wort „Hölle“ - ist zwar Totenwohnstätte, es ist aber auch der Name einer für die Geburt zuständigen Göttin. Kaum bekannt ist, dass Alte oder Gebrechliche freiwillig aus dem Leben schieden, um den demütigenden „Strohtod“ zu vermeiden. Sie opfern sich für das Wohlergehen der Sippe und brauchen keine ewige Verdammnis zu befürchten. Das Selbstopfer für die Menschheit bis in den Tod … eigentlich auch ein christlicher Gedanke.
Auf dem Friedhof von Glurns befindet sich das Grab des Künstlers Paul Flora, geboren 1922 in Glurns, 2009 gestorben und hier begraben - auf eigenem Wunsch. Die Grabstätte hat sein Vorarlberger Künstlerfreund Herbert Meusburger gestaltet, mit zwei Raben, den Lieblingsvögel des Zeichners. Er hat ihren Flug bereits als Knabe am Himmel von Glurns beobachtet und zu verstehen versucht. Die schwarzen Vögel sind Wotans Boten, vermitteln zwischen dem Götterhimmel und den Menschen. Sie sind Totenvögel und Geburtshelfer zugleich.
Glurns ist durch die Etsch mit Venedig verbunden… dort sitzt er immer noch, der große Meister der venezianischen Stadtdämonen, im Caffè Florian am Markusplatz.
Ob ungläubig oder christlich, aus aller Welt kommen sie hierher, die Nachkommen, die Verwandten, die Freunde und Freundinnen, kommen ins Gespräch miteinander, mustern sich gegenseitig und zählen die Besucher dieses und jenes Grabes. Wundern sich über das Wegbleiben vertrauter Gestalten und stellen fest, dass die Absätze der gar nicht so jungen Freundin viel zu hoch sind. Der kalte Vinschger Wind vertreibt sie bald, sie verzieht sich ins Warme. Dabei hätte der Paul die hohen Absätze und die dazu gehörenden Beine so gerne gezeichnet! Er hat es aber meist vorgezogen, Störche und anderes dünnbeiniges Vogelzeug auf das Blatt zu zaubern, immer mit einer Botschaft, immer als Briefträger aus einer anderen Welt.
Thea Hofer stellt an den Anfang ihrer Diplomarbeit einen Satz von Reinhold Schneider: „Es gehört zum großen Unglück der Welt, dass sie verlernt hat, mit den Toten zu leben und zu hören auf die stillen Einflüsterungen der Liebe aus dem anderen Bereich.“ In diesem Geist ist die Untersuchung über „Germanische und nordische Jenseitsvorstellungen“ entstanden, wobei auf sehr Aktuelles verwiesen sei. Das frühe Christentum musste unter anderem mit dem Jenseitsglauben der heidnischen Bevölkerung konkurrieren. Das ganze Brauchtum, den Totenkult betreffend, wollten sich die Menschen nicht „mir nichts, dir nichts“ nehmen lassen. Wohl aber war man zu einer neuen Deutung bereit. Die alten, bewährten Vorstellungen wurden nur „wiedergeboren“, christlich vertieft, gestrafft und geordnet. Fränkische Adelige, wissensdurstig und zum Studium bereit, waren begeistert von der ordnenden Kraft der lateinischen Kirche.
So manche Grausamkeit aus dem heidnischen Götterchaos musste dabei geschluckt und verdaut werden, ähnlich den heutigen Herausforderungen durch Armut und soziale Not. Schamanismus also Geschlechtsverwandlung, das Annehmen verschiedener Tiergestalten, Heilen durch Beschwörung und Reden mit den Toten, also Geisterzauber in aller Welt … eine zu große Toleranz des Papstes wird argwöhnisch überwacht. Aber Rom hat eine Tür geöffnet, sagen die Befürworter dieser Politik. Der Papst folgt insofern einem großen Vorbild. Es ist Gregor der Große aus dem 6. Jahrhundert, der die Bedeutung der germanischen Stämme für die junge Kirche erkannt hat und die Empfehlung aussprach, den Glauben der Heiden nicht zu „verteufeln“, sondern mit der neuen Botschaft zu verschmelzen.
Neue Zeiten lassen sich nicht verbieten, vielleicht aber verstehen … auch durch Zwiesprache mit den Toten.
{jcomments on}