Diese Schwelle ist beim Problem „Konzentrationsstörungen - Disziplin“ - in ihren vielfältigen Formen - offensichtlich erreicht. Zugrunde liegt zum einen die Erfahrung der letzten Jahre, in denen sich die Lehrer und damit zusammenhängend die Diskussionen in Klassenräten und Plenarsitzungen zunehmend schwer taten, mit auffälligen, vorlauten und hyperaktiven Kindern umzugehen. Zum anderen die Tatsache, dass zu Beginn des Schuljahres 2013/14 in den schriftlich verfassten „Ausgangslagen“ der SchülerInnen auffallend häufig Sätze wie „er/sie ist unruhig“, „ihm/ihr fällt es schwer, eine Zeit lang still zu sitzen und sich zu konzentrieren“, „er/sie ist zu wenig gründlich und hat wenig Ausdauer“. Diese Formulierungen finden sich in den ersten Klassen der Grundschulen bis hinauf in die Mittelschulen.
Wiederholt wurden diese Formulierungen sehr oft auch mündlich bei den ersten Sprechstunden im Dezember. Die Direktoren der Schulen sind alarmiert und sie wollen das Thema „Konzentrationsstörungen - Disziplin“ auf einer breiteren Ebene diskutieren lassen. Es sind vor allem die Direktorin des Schulsprengels Prad, Verena Rinner, und der Direktor des Schulsprengels Schlanders, Reinhard Zangerle, die seit längerem im Rahmen der Steuergruppe Inklusion den Ringschluss zwischen Schulen, Kindergärten, psychologischem Dienst, dem pädagogischen Beratungszentrum, dem Sozialsprengel, Berufsberatung und Arbeitsamt suchen, sich im vorigen Jahr auf die Unterbringung von Kindern mit Diagnose in der Arbeitswelt bemühten und heuer vorerst mit einer öffentlichen Podiumsdiskussion starten wollen. Wenn am Donnerstag, den 20. März 2014 ab 19 Uhr in der Aula der Grundschule Schlanders das „Informationscafé und Podiumsdiskussion“ startet, stehen auch provokante Fragen an: „Konzentrationsstörungen? Schlecht erzogen? AD(H)S?“
Rinner formuliert das Ziel so: „Damit alle verstehen, dass Schule allein Erziehung nicht leisten kann.“ Für die Diskussion und überhaupt brauche es die Gesellschaft, die Eltern, auch die Vereine usw.. Das Schema, das sich zu verfestigen droht, soll durchbrochen werden. Nämlich: Die Schule meldet betroffenen Eltern zurück, dass man nicht mehr weiterwisse; Eltern sagen: Ihr müsst’s das richten.
Tatsächlich investieren LehrerInnen in Klassen enorm viel Energie, um eine bestimmte Ruhe hineinbringen zu können, damit Lernstoff überhaupt vermittelbar wird. Auch lang erfahrene LehrerInnen beginnen an dieser Situation zu verzweifeln, auch weil sie oft mit dem Gefühl aus der Klasse gehen, kaum Lernstoff untergebracht zu haben. Ein-zwei „Puffkeiler“, die für Benimmregeln nur sehr schwer zugänglich sind, gibt es fast in jeder Klasse. Dazu kommen jene SchülerInnen, bei denen AD(H)S diagnostiziert wurde.
Die Hürde für eine klinische Diagnose ist alles andere als einfach zu nehmen. Schulen bzw. Lehrer gehen sehr vorsichtig damit um, einen Schüler mit Einverständnis der Eltern von einem Psychologen untersuchen zu lassen. Der Psychologe Albin Steck ist Koordinator des psychologischen Dienstes Vinschgau, angesiedelt im Sanitätsbetrieb. Bei ihm laufen die Anfragen für eine Untersuchung ein. Steck bedient sich aufgrund der schriftlichen und mündlichen Skizzen von Seiten der Schule und der Eltern einer Differenzialdiagnostik. Damit kann Steck die Richtung abstecken, ob es sich bei einem Kind (der Großteil der Untersuchten sind Buben) um einen ADH oder ADHS-Fall handelt, oder ob eine andere Diagnose gestellt werden muss. Steck lobt die Kindergärten im Vinschgau. Die gut ausgebildeten Kindergärtnerinnen seien sehr achtsam im Bezug auf mögliche Störungen im Kleinkindalter. Ein frühes Eingreifen, ein frühes Rückmelden an die Eltern habe sehr oft Verhaltenskorrekturen zur Folge.
Im Vinschgau gibt es das PBZ (Pädagogisches Beratungszentrum), angesiedelt am Schulamt. Johanna Stecher und Irene Rechenmacher sind zuständig für alle Schulen im Tal. Sie beraten Lehrer, Schüler und Eltern und haben die Möglichkeit, als Außenstehende, einen anderen Blickwinkel einnehmen zu können. Die Direktoren Rinner und Zangerle wünschen sich zudem, dass pädagogische Beraterinnen und Schulpsychologen in den Schulen angesiedelt sein sollten. Akutsituationen könnten so besser gelöst werden.
Ein Kind mit klinischer Diagnose hat in der Schule Anrecht auf individuelle Betreuung, eventuell auf Reduzierung des Lernstoffes. Das ist gesetzlich geregelt. Die Diagnose bringt in der Regel ein Mehr an Verständnis für das Verhaltensmuster der Schüler bei den LehrerInnen. In mehreren Fällen allerdings nicht bei vielen Eltern.
Eltern mit mehr oder weniger fleißigen Kindern bringen oft wenig Verständnis auf, wenn ihr Kind in einer Klasse mit verhaltensauffälligen, unruhigen, schwierigen Schülern unterrichtet wird. Da wird schon einmal der eine oder andere Direktor barsch aufgefordert, ein solches Kind zumindest in eine andere Klasse zu versetzen.
Auch solchen Attacken standzuhalten, benötigt in der Schule viel Energie: bei den Sprechstunden, in der Direktion.
Und genau auch solche Themen sollen beim „Informationscafé“ am 20. März zur Sprache kommen. Denn auch bei den Eltern soll die Erkenntnis greifen , dass nur ein gemeinsamer Weg Schule für alle langfristig erfolgreich macht.
Informationscafé und Podiumsdiskussion
Donnerstag, 20. März 2014 - 19.00 Uhr
in der Aula der Grundschule Schlanders
„Konzentrationsstörung? Schlecht erzogen? AD(H)S?“
am Podium: Dr. G. Parolin (Ärztin, Vertreterin des Kompetenzzentrums AD(H)S)
Dr. P. Küspert (Diplompsychologin, Universität Würzburg)
Dr. E. Hickmann (Pädagogin)
Vertreter/innen der Schulen, Steuergruppe Inklusion Vinschgau
Vertreter/innen der Beratungsstellen, Organisationen und Eltern Vinschgau
Moderation: Dr. Verena Rinner
„Tendenz steigend“
Vinschgerwind: Schule hat mit vielerlei Problemen zu kämpfen. Eines davon sind Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen bei den Schülern. Wie geht Schule damit um?
Reinhard Zangerle: Schule ist mit vielerlei Herausforderungen konfrontiert. Als Problem würde ich dieses Phänomen nicht benennen, der Umgang mit der Störung wird aber oft zum Problem. Kinder mit Konzentrationsschwierigkeiten sind ein Segment in den Herausforderungen. Es gibt Kinder, die eine gravierende und klinisch festgestellte Störung in der Aufmerksamkeit und in der Konzentration haben. Es gibt Kinder, bei denen noch eine Aktivitätsstörung (ADHS) dazukommt. Im Schulsprengel Schlanders machen diese Diagnosen gerade einmal 3 Prozent aus.
Der Anteil an Konzentrationsstörungen dürfte allerdings weit über die diagnostizierten Fällen hinausgehen?
Auf jeden Fall. Tendenz steigend. Die Erfahrung aus den letzten Jahren zeigt, dass Kinder immer größere Schwierigkeiten haben, bestimmte Anpassungsleistungen zu erbringen.
Was versteht man unter Anpassungsleistungen?
Früher hat man gesagt, mit der Schule beginnt der Ernst des Lebens. Kinder müssen lernen, sich irgendwo einzugliedern, Regeln ein zu halten und aufpassen zu können. Das ist oft nicht selbstverständlich. Lehrer müssen fast schon Wunder wirken, damit Kinder aufmerksam sind. Mit fremdbestimmten Aufgaben konstruktiv umgehen zu können ist eigentlich ein Merkmal der Schulfähigkeit.
Direktoren erhalten die Informationen aus der Lehrerschaft in geballter Ladung. Wie wird die Problematik der Aufmerksamkeitsstörungen in der Lehrerschaft gefühlt?
Lehrpersonen kommen oft mit Einzelschülern an ihre Grenzen. Fortbildung auf Bezirksebene, wie zum Beispiel das Teachertraining wird angeboten. Schulintern haben wir in den letzten Jahren versucht, diese Herausforderung aufzugreifen und uns bemüht, den Lehrern entsprechendes Handwerkszeug mitzugeben, sie mit Strategien auszurüsten.
Wie schauen solche Strategien konkret aus?
Lehrpersonen müssen wissen: Beziehung kommt vor Erziehung. Es geht darum, mit den Schülern auf der Beziehungsebene zu arbeiten, denn alles, was Kinder zeigen, sind Signale. Lehrer müssen versuchen, diese Signale zu entschlüsseln. Ein weiteres Beispiel ist das Emotions-Coaching. Damit meldet man Kindern zurück, was man wahrnimmt. So kann man in einen Dialog mit dem Kind treten, um es besser verstehen zu können. Nicht immer ist es möglich Beziehungsarbeit zu leisten. Ich denke an Lehrpersonen in der Mittelschule, die lediglich zwei Einheiten in der Woche in einer Klasse mit 23 Schülern sind. Da gibt es dann auch Momente, dass ein Lehrer Ruhe und Konzentration verlangen muss, bei einer Schularbeit etwa.
Das ist die schulische Seite. Die Schulen wollen mehr Dialog mit den Eltern. Braucht die Schule eine Art neuen Gesellschaftsvertrag?
Mir geht es beim Thema Aufmerksamkeitsstörung darum, dass man die Sache etwas breiter fasst. Ich wehre mich zu sagen, dass jedes Kind mit Konzentrationsstörung schlecht erzogen ist. Ich habe den Eindruck, dass Schule zunehmend der erste Ort im Leben eines Kindes ist, wo Grenzen aufgezeigt werden. Es geht darum, wie Kinder mit Frustrationen umgehen können. Familie passiert heute großteils nur mehr in den Pausen: In der Früh geht alles schnell, zu Mittag, wenn es denn einen gemeinsamen Mittagstisch gibt, und am Abend, wenn alle müde sind. Es fehlen dann oft Momente, in denen Kindern in vielen kleinen Konflikten Grenzen gesetzt bzw. in denen sie mit Frustrationen konfrontiert werden. Ich frage mich, wo ein Austausch, ein sich Aufeinander-Einstellen-Müssen, bei Einzelkindern etwa, oder bei berufstätigen Eltern noch gegeben ist.
War das früher besser?
In der Großfamilie war das anders, besser würde ich nicht sagen. Jedenfalls waren mehrere Erzieher mit eingebunden. Je kleiner die Familie ist, desto weniger Interaktionsmöglichkeiten haben Kinder. Grenzen aufzuzeigen gehört in der Schule einfach dazu. Kinder müssen Beziehungsgefüge ausloten, müssen sich durchsetzen lernen. Das sind soziale Kompetenzen, die Schule begleiten und unterstützt. Viele dieser „Gefechte“, die früher in den Familien stattfanden, werden heutzutage erst so richtig in der Schule geführt. Die veränderten Kindheiten in einer reizüberfluteten Welt müssen mit berücksichtigt werden.
Stößt Schule bei Lösungsansätzen in Sachen Konzentrations- oder Aufmerksamkeitsstörung bei Eltern auf Unverständnis?
Sehr oft, speziell im Bereich der Bewertung. Ich habe manchmal den Eindruck, dass Eltern ein Idealbild von ihren Kindern haben und die Rückmeldungen der Schule zum Kind nicht wahrhaben wollen. Dann ist ganz einfach das Schulsystem oder die Schule nicht richtig für das Kind. Dies macht den Dialog über Lösungsansätze schwierig. Auf der einen Seite fordern Eltern, dass wir alle gleich behandeln sollen, auf der anderen Seite sollen wir auf unterschiedliche Befindlichkeiten eingehen. Das ist ein Widerspruch, dem wir als Schule so weit als möglich mit Individualisierungsmaßnahmen aufzufangen versuchen.
Interview: Erwin Bernhart