Unter dem Titel „Gras und Zähne“ ist im Naturmuseum in Bozen bis 12. Oktober 2025 die neue Sonderausstellung zu sehen, die mit viel Vinschger Herzblut entstanden ist. Welches Gras und wessen Zähne? Das Naturmuseum führt hinein in die Kulturgeschichte der Weidetierhaltung, für das Verständnis wichtig: Die Handlung beginnt mit dem Ende der letzten Eiszeit um 10.000 vor heute. Wildtiere nutzten die Vegetation, als die ersten Bauern aus dem vorderen Orient mit ihren Haustieren in die südlichen Alpen kamen. Die Landschaft begann sich zu verändern, es entstanden immer mehr und größere Flächen an Weiden für die Haustiere. Füchse, Wölfe und Menschen waren genauso abhängig von der Vegetation. Die Pflanzen bestimmen, wie viele Tiere in einem Lebensraum vorkommen. Für Menschen stehen meist die Tiere im Vordergrund, das Naturmuseum zeigt mit Pflanzenpräparaten, wovon alles ausgeht. Wie lassen sich Tiere im Museum darstellen? Diese Frage bestimmt den Charakter der Ausstellung stark. Der Wolf ist von der Künstlerin Daniela Cagol aus Brixen lebensecht nachgebildet. Alle anderen Tiere sind Skulpturen des Schnalser Bildhauers Friedrich Gurschler, der in seiner Jugend selbst Hirte war. Johanna Platzgummer, ursprünglich aus Schlanders, entwickelte das Ausstellungskonzept, die Partner innerhalb des EU-Projekts LIFEstockProtect berieten und standen für Fachinformationen zu den unterschiedlichen Themen zur Seite. Die Ausstellung selbst ist ein Ergebnis des EU-Projektes, das 2020 begann und 2025 endet. Das Raumkonzept erarbeitete der Kortscher Architekt Thomas Hickmann. Die sieben Themenbereiche gliederte er durch Raumteiler. Ihm war wichtig, das große Thema Weideflächen und Tierhaltung, Almwirtschaft und Hirten authentisch wiederzugeben, Design und Aussage sollen eine überzeugende Einheit sein. Dazu gehören vor allem die Materialien, um den Inhalten Gestalt zu geben. Alle Rahmen und Ausstellungsmöbel sind aus Vinschger Gebirgslärche gefertigt (Tischlerei Jürgen Gemassmer aus Kortsch), die Weidengeflechte der Raumteiler (Irmgard Gurschler aus Kastelbell) erinnern an die Flechtzäune, mit denen die Bäuerinnen ihre Gärten vor gefräßigen Haus- und Wildtieren schützten, die Zäune gaben Eigentumsgrenzen an. Es geht um Zusammenhänge und spricht einige der Herausforderungen von heute an. Hat die Weidehaltung eine Zukunft? Ein Themenbereich ist die Almwirtschaft. Am Beispiel der Stilfser und Schlanderser Alm lernen die Besucher den Zweck der Hochalmen kennen, die Weidetiere im Sommer „aus dem Futter zu bringen“ und Käse und Butter herzustellen. Die Stilfser Alm ist 700 Jahre alt, eine stattliche Tradition. In den Filmen vom Stilfser Chronisten Peter Grutsch wird die Almarbeit lebendig. Die beiden Almmeister Herbert Pinggera und Sepp Ortler, die im Film sichtbar sind, decken zusammen 50 Jahre Almmeisteramt auf der unteren Stilfser Alm ab, beide versuchten die Alm als Wirtschaftsraum zu halten. Gruppenfotos des Almpersonals geben Auskunft über die Berufe, Obersenn und Untersenn, Großhirt und Kleinhirt…Erich Höchenberger, der als Hirt auf der Krippaland-Alm in Taufers die Schafe nachts in einer Koppel hielt, erzählt über seine Erfahrungen mit Weidezäunen und Herdenschutzzäunen. Er erklärt in einem Video, wie sie ihren Dienst tun. Es muss nicht die gesamte Alm eingezäunt werden. (ap)
Wir haben festgestellt, dass die jüngeren Generationen keinen Kontakt mehr haben zu den sogenannten Nutztieren und dem bäuerlichen Alltag, in dem Tiere noch eine Bedeutung haben. Die Ausstellung versucht hier aufzufüllen, schafft Zusammenhänge, durch Sprache, Figuren, Licht und die wunderbaren Handwerker aus dem Vinschgau.
Kuratorin Johanna Platzgummer
Die Themenbereiche der Ausstellung
1. Wilde Alpen.
Thema sind einerseits die Wildtiere, die vor dem Menschen da waren und die zum Teil geblieben sind, andererseits die Wildpflanzen, die menschliche Besiedlung verdrängt hat oder die innerhalb von Weiden gefördert wurden. Menschen teilen sich die Alpen mit vielen Lebewesen. Als die ersten Bauern aus dem Vorderen Orient in der Jungsteinzeit mit ihren Haustieren in die Alpen kamen, haben sie begonnen Wildtiere zu verdrängen und menschliche Nutzflächenzu markieren. Der große Einschnitt erfolgte mit der Bevölkerungszunahme vom 17. bis ins 19. Jahrhundert. Der Wald verschwand bis auf einige Bergwälder. Menschen brauchten viel Holz, Flächen für ihre Weidetiere und für Heuwiesen. „Im 19. Jhd. hat es im südlichen Tirol Hirsche, Murmeltiere, Steinböcke und Gämsen nicht mehr gegeben, die Rehe konnten sich nur in ganz kleinen Zahlen halten“, fasst Johanna Platzgummer zusammen. „Alle diese Tierarten wurden wieder in ihren ehemaligen Lebensräume ausgewildert. Erstaunlicherweise waren die Wölfe die letzten, die ausgestorben sind.“
2. Zähmung und Zucht.
Von den Wildtieren und -pflanzen führt der Weg in der Ausstellung in die domestizierte Welt mit den ersten Haustieren. Die Weide war eine Wirtschaftseinheit. Es hat nichts anderes als die Weide gegeben, um die Tiere zu ernähren. Das ist die ältere Form als die Wiese. Die klassischen Haustiere waren in der frühen Jungsteinzeit die Ziege und das Schaf, in der Bronzezeit ist das Rind, in der Eisenzeit das Pferd dazugekommen.
3. Lebensräume.
Um Dörfer und Städte lagen Äcker für Getreide, Rüben und Kohl; Nahrung für Menschen, die Hoftiere weideten Gras und Laub. Hirten führten tagsüber die Tiere auf die Weiden der Gemeinde.
Der Weidegang wurde streng geregelt, Missachtung bestraft.
Industrialisierung und Globalisierung veränderten diese Praxis.
Die ganzjährige Stallhaltung verdrängte die Weidetradition.
Futtermittel wurden importiert, Maschinen ersetzten Menschen.
Nach 1950 konnten sich viele in Europa Milch und Fleisch leisten.
4. Symbole.
Um die Weiden gut zu nutzen, ist die Lenkung der Tiere durch Hirten nötig: Der Hirtenstab zeigt beides an, Herrschaft und Fürsorge. „Der Hirtenstab ist das erste Zeichen für Kontrolle, für Fürsorge, für Macht. Aus dem Hirtenstab haben sich Zepter und der Richterstock entwickelt“, erklärt Platzgummer. In der Ausstellung erinnert eine Bischofsfigur aus dem 15. Jahrhundert daran. Die Bischöfe werden ja als Hirten im übertragenen Sinn bezeichnet.
Was machen Hirten mit dem gebogenen Stab?
Sie ziehen ein Schaf am Bein aus der Herde heraus; Krummstab und Geißel waren Zeichen der Macht, seit es Könige und Götter im Alten Ägypten gab. Im Mittelalter trugen die Bischöfe den Krummstab, Richter oder etwas verkürzt als Szepter der Fürst.
5. Die Almwirtschaft.
Der Zweck der Almwirtschaft war, die Tiere „aus dem Futter zu bringen.“ Jeder durfte nur so viele Tiere auf Gemeindealmen sömmern, wie er Futterflächen für das ganze Jahr besaß, Gras war knapp. Während des Almsommers erholten sich die ausgezehrten Tiere. Seit dem Mittelalter ist die Herstellung von Almkäse bekannt, als Eigenversorgung, Steuerabgabe und begehrte Marktware.
Ein Modell mit Sicht auf die Weideflächen gibt viele Informationen über die Almwirtschaft: „Die Tiere erholten sich von der mageren Winterkost. Das Getreide brauchten die Menschen selbst. Viehhaltung ist im Schlandrauner Tal schon seit fast 3000 Jahren nachgewiesen. Das Weidesystem baute auf dem Erfahrungswissen auf und sollte die Tiere ausreichend ernähren und die Weiden über die Jahrzehnte erhalten. Daher braucht es die Führung durch Hirten. Ansonsten würden die Schafe beispielsweise gleich in die Höhe laufen und das zarte, nährstoffreiche Gras fressen. Heute weiden an die 80 Jungrinder und Kälber im mittleren Bereich. Im Unterschied zu früheren Jahrzehnten weiden heute auch Schafe auf diesen Weiden, der Schlanderser Schafberg ist aufgelassen, es gibt zu wenig Tiere im Sommer. Die alte Almordnung von 1442 sah auf den Weiden, die wir im Modell zeigen, nur Rinder vor und die Pferde. Die Milchkühe standen auf der anderen Seite des Schlandraunbachs.“
6. Zäune.
Was einst Knechte und Hirten übernahmen, leisten nun Zäune. Erste elektrifizierte Zäune gibt es seit den 1950er-Jahren. Es gab vor Erfindung der Elektrozäune rund 30 Zaunarten, je nach Landschaft und Funktion: Flecht-, Ring-, Rantenzäune. Gut gewartete Zäune machen viel Arbeit, sind aber effizient. Der Tauferer Almhirte Erich Höchenberger erzählt in einem Film vieles rund um das Thema Zäune.
7. Zukunft der Weide.
Futterkonzentrate erhöhen die Marktleistung von „Nutztieren“. Folgen: Nitrat und Ammoniak in Böden, Wasser und Luft. Wenige verdienen viel an der Massentierhaltung; und viele zu wenig: Förderungen kommen vor allem den Agrar-Industriebetrieben zugute. Wird kultiviertes Fleisch aus Stammzellen den Massenbedarf decken, Fleisch aus reiner Weidehaltung seinen elitären Markt erweitern? „Die Massentierhaltung ist der mächtige Konkurrent der Weidehaltung, aber Kunden und Kundinnen entscheiden mit, wie es weitergeht.“
Kontakt
Naturmuseum Südtirol | Bindergasse 1 | 39100 Bozen,
T. 0471 412 964 | info@naturmuseum.it
Öffnungszeiten
Di. – So. 10.00 bis 18.00 Uhr
Geöffnet auch an Feiertagen außer 1. Mai 2025