Durch Mobbing am Arbeitsplatz war der 53-Jährige in die Depression geschlittert. Fast drei Jahrzehnte lang hatte er im Bereich Einkauf-Verkauf einer Baufirma sein Bestes gegeben. Nach einer Personalveränderung machte man ihn zu Unrecht für vieles verantwortlich, was andere verbockt hatten. „Man hat mich regelrecht abgesägt“, sagt er. Er versuchte seine Sorgen im Alkohol zu ertränken, doch sie ließen sich nicht ertränken. Es dauerte lange bis er sich seiner Frau anvertraute, die für ihn professionelle Hilfe suchte. Die Aufnahme in der psychiatrischen Abteilung war für Josef traumatisch. Die Depression paarte sich mit Scham, und in seiner Verzweiflung versuchte er sich mit dem Gürtel des Bademantels zu erdrosseln. Es gelang nicht. Apathisch saß er da. Psychologen kamen nicht an ihn heran, Medikamente wirkten nicht. „Den ersten Lichtblick erkannte ich nach der Behandlung mit Elektroschocks“, sagt er. Dieser Lichtblick machte ihm Mut, er begann zu kämpfen, unterstützt von seiner Familie und ließ sich auch auf eine medikamentöse Behandlung ein.
Depressionen sind in der modernen Welt im Vormarsch. Einem Suizid geht meist eine Depression voraus, die sich schleichend einnistet und Betroffene in eine schwere Krise stürzt, aus der sie keinen Ausweg mehr sehen. (siehe Interview).
In Südtirol nehmen sich jährlich 50 bis 70 Menschen das Leben, dreimal mehr Männer als Frauen. Die Suizidrate in Südtirol ist doppelt so hoch wie in Italien. „Italiener sind extrovertierter“, sagt Roger Pycha. Risikogruppen sind psychisch Kranke, Süchtige, schwer körperlich Behinderte, alte Menschen, Menschen mit sozialen Problemen, Menschen mit Suizidfällen in der Familie, einsame Menschen, Arbeitslose…Eine psychische Erkrankung ist mit Schamgefühl und Tabus behaftet. Betroffene ziehen sich zurück, schweigen, leiden und spielen allen eine heile Welt vor. Die Angst stigmatisiert zu werden ist groß. Das ist ein Grund, dass mit einer Behandlung zu lange zugewartet wird. Doch auch eine Therapie ist keine Garantie für Heilung. Die Suizidgefahr ist in den ersten vier Wochen nach Entlassung durchschnittlich höher, weil der geschützte Raum fehlt und Betroffene am Tabu ihrer Krankheit zerbrechen. „Bei Krebs ist die volle Zuwendung da, dasselbe würde ich mir bei psychischen Erkrankungen wünschen“, sagt Christine Schullian aus Neumarkt. Sie hat ihren Sohn Andreas nach einer Depression und jahrelangem Kampf dagegen verloren.
„Menschen und Medikamente helfen“, betont Pycha, und er versucht mit Vorurteilen aufzuräumen. Medikamente können eine psychische Krankheit positiv beeinflussen und die Patienten „wieder zum Leben erwecken“. Es gehe darum „ Patienten nicht nur zu behandeln, sondern mit ihnen zu verhandeln“.
Hilfen bieten Selbsthilfe-Gruppen, wie sie beispielsweise der Verein zur Förderung der psychischen Gesundheit „Lichtung“ für Menschen mit Depressionen und deren Angehörige anbietet. „In der Gruppe geben sie sich gegenseitig Halt und Kraft“, erklärt Ingeborg Forcher, Leiterin der Selbsthilfegruppe Meran und selbst Betroffene. Sie fordert Offenheit im Umgang mit dem Thema ein. „Wir müssen das Tabu brechen“. Forcher bietet auch Einzelgespräche für Betroffene und deren Angehörige an. „Dabei versuche ich den Menschen zu helfen und ihnen eine Brücke hin zu professioneller Hilfe zu bauen.“
Depressive Menschen leiden oft unbemerkt im Stillen und gehen ohne Abschied, ohne Ankündigung ohne Brief. Das trifft die Angehörigen schwer. Hilflosigkeit, Schuldgefühle drücken sie nieder. Die Grundfesten sind erschüttert. Hätten wir das verhindern können? Warum hat er sich uns nicht anvertraut? Diese Fragen quälen. „Die Antworten zu suchen ist harte Arbeit, tränenreich und manchmal erfolglos“, sagt der Notfallseelsorger Peter Holzknecht. Bei Suizid kommen in der Trauerarbeit noch Schuld, Scham, Wut und Ärger dazu. Ein Suizid ist ein Tabuthema und das belastet die Trauerarbeit. Das Ehepaar Schullian aus Neumarkt, will mit dem Tabu brechen. „Niemand ist schuld. Es gibt eine höhere Macht“, so Christine Schullian und sie betont: „Es darf kein Tabu geben. Depressive Menschen sind wundervolle Menschen.“ Ihr Sohn hat einen Abschiedsbrief hinterlassen. „Ich hatte die besten Voraussetzungen, aus meinem Leben etwas zu machen …aber nichts und niemand konnte mir helfen“, schreibt er. Das entlastet und tröstet.
Offene Gespräche, Vertrauen in den behandelnden Arzt, gezielt eingesetzte Medikamente, Zuwendung durch Familienmitglieder, Freunde im Dorf und in der Selbsthilfegruppe sowie nicht zuletzt die Frühpensionierung, das alles hat Josefs Heilungsprozess positiv beeinflusst. Ehrenamtlich arbeitet er nun bei der „Lichtung“. „Es ist wichtig, etwas Positives zu leisten“, sagt er. Seit drei Jahren kommt er ohne Medikamente aus und er freut sich des Lebens. Er sieht wieder das Leuchten der Sonne und die Farbenpracht der Natur.
Wohin bei Depression und
Suizidgedanken?
Zentrum für Psychische Gesundheit
Schlanders, Hauptstraße 134,
Tel 0473 736690
Psychosoziale Beratungstelle der Caritas
Schlanders, Hauptstraße 13,
Telefon: 0473 621737
Selbsthilfegruppe Lichtung/Einzelgespräche: Ingeborg Forcher 0473 624558 oder 3391637100
Sterben will keiner
Vinschgerwind: Herr Pycha, welche Anzeichen deuten darauf hin, dass ein Mensch einer Depression zusteuert?
Roger Pycha: Es gibt drei Hauptkennzeichen: Wenn jemand mindestens zwei Wochen lang ununterbrochen schwer gedrückter Stimmung ist, einen Mangel an Kraft und Energie bemerkt und weder Freude noch Interesse an vorher angenehmen Tätigkeiten (Hobbies, Gesellschaft von Freunden, Sex) verspürt, beginnt eine Depression, die behandlungsbedürftig ist. Sie ist meistens von Schlafstörungen, reduziertem Appetit, Gewichtsverlust und Konzentrationsstörungen begleitet.
Depression wird lange - oft zu lange- versteckt. Je länger mit einer Behandlung zugewartet wird, desto fataler die Folgen?
Ja, die meisten Betroffenen haben kaum Kraft zu reagieren schämen sich oder haben Angst vor Fachleuten. Deshalb sind es meist die Angehörigen, die sie zu Ärzten oder Psychologen schleppen, und das ist richtig so. Nur wartet man in der Regel viele Wochen, auch Monate, bevor man diesen einfachen Schritt wagt. Dabei sind Südtirols Hausärzte auf das Thema Depression bestens vorbereitet. Bei schweren Depressionen mit Suizidgefahr ist das Zentrum für Psychische Gesundheit in Schlanders die richtige Adresse, nachts oder am Wochenende die Erste Hilfe des Krankenhauses Meran oder der Dienst habende Hausarzt. Ich sage: jeder Tag, den jemand früher in Behandlung kommt, bedeutet eine Woche frühere Heilung.
Das Tabu im Tabu ist die medikamentöse Behandlung. Die meisten Menschen denken an apathische Kranke. Sie, Herr Pycha, sprechen von Missverständnissen. Was ist Sache?
Es gibt schwer wiegende Vorurteile gegenüber Medikamenten, die Depressionen heilen. So genannte Antidepressiva machen nicht abhängig, und sie verändern auch nicht die Persönlichkeit. Sie stärken nur den seelisch geschwächten Teil einer Person: Nach knapp zwei Wochen kehrt die innerer Energie langsam zurück, und nach zirka drei Wochen wird die Stimmung wieder gut. Diese Medikamente wirken, wenn man zwei bis drei Versuche akzeptieren kann, bei 70% der depressiv Erkrankten. Stärker wirkt nur die Elektrokrampftherapie, nämlich bei 85%.
Die psychologische Betreuung in Südtirol wird oft kritisiert, vor allem im Jugendbereich?
Die psychologische Betreuung ist mit den vier Psychologischen Diensten und vielen privat arbeitenden Psychologen ganz ausgezeichnet. Die psychiatrische Betreuung entspricht hingegen längst nicht überall den Vorgaben des Landesgesetzes aus dem Jahr 1996. In Bruneck zum Beispiel sind nur 65% der geplanten Einrichtungen entwickelt, und das merke ich jeden Tag. Wir sind heillos überfüllt und überlastet. Auch die Kinderpsychiatrie steckt im ganzen Land noch in den Kinderschuhen. Glücklicherweise bemerke ich überall bei den Helfern großes Engagement. Das hilft zum Teil gegen die Unterbesetzung, kann aber auch ins Burnout führen.
Kann ein Suizid verhindert werden?
Zirka 40 bis 70% aller Suizide gehen auf die Krankheit Depression zurück. Bei rechtzeitiger Hilfe, Begleitung und Heilung könnten alle diese Betroffenen gerettet werden. Viele Betroffene wissen das und danken uns später dafür, dass wir sie vor sich selbst geschützt und betreut haben, in einer Zeit, als sie sich selbst längst aufgegeben hatten. Schwer Erkrankte können sich manchmal nicht mehr vorstellen, in dem Leid weiter zu machen. Wirklich sterben will keiner von ihnen.
Interview: Magdalena Dietl Sapelza