Die christliche Engelkunde ist, was man weiß, geprägt von der um 500 n.Ch. in griechischer Sprache geprägten Hierarchien-Lehre des Dionysius Areopagita. Er beschreibt auf folgender Weise das Heer der neun treu gebliebenen Engel-Chöre: die obersten - die Seraphim, Cherubim und Throne - stehen Gott am nächsten. Sie geben göttliche Kräfte, die sie selbst von Ihm empfangen, weiter an die mittleren Hierarchien – die Herrschaften, Kräfte und Gewalten – welche dieselben ihrerseits in lebendigem Austausch den untersten Hierarchien vermitteln - den Fürstentümern, Erzengeln und Engeln.
Seit einiger Zeit sind Engel wieder gefragt. Nicht so sehr bei Theologen, sondern vor allem bei Anthroposophen, New-Age-Anhängern, Psychotherapeuten, Sterbeforschern, Schriftstellern, Künstlern und Filmemachern. Sie treten im Fernsehen und im Theater auf, in Schlagertexten und in der Werbung. Man denke nur an die Mahnung auf Plakaten: „Gib deinem Schutzengel eine Chance.“ „Wenn Ihr Schutzengel mal nicht aufpasst, fangen wir Sie auf“, verspricht eine Unfall- und Lebensversicherung.
Manchmal erscheinen Engel dem Menschen im Traum. Sie leben in der Umgangssprache, in Ausdrücken wie: engelgleich, engelrein, mit Engelszungen reden, du bist ein Engel, Engelsgeduld. „Du ahnungsvoller Engel, du“, sagt Goethes Faust zu seinem Gretchen. Menschen, die uns unerwartet in einer ausweglosen Situation zu Hilfe kommen, Trost spenden, Beistand leisten, wirken auf uns wie Engel. Bekanntlich kommen Engel vor allem in Kirchenliedern und in der Weihnachtsbotschaft vor. Sie kündigten die Geburt Jesu an und waren stets an seiner Seite: bei der Flucht nach Ägypten, der Versuchung in der Wüste und im Garten Gethsemane bis hin zu Auferstehung und Himmelfahrt. Im Buch der Bücher treten sie als freundliche Boten Gottes auf, als Grenzgänger zwischen Himmel und Erde. Meister Eckhart sah in ihnen „Gedanken Gottes“.
Im Christentum werden verstorbene Kinder in die Schar der Engel eingereiht. Zynisch spricht man allerdings auch von Engelmacherinnen, die verhindern, dass ungeborene Kinder das Licht der Welt erblicken.
In Mythen und Märchen sind Engel Träger geheimnisvoller Mächte. Laut Eugen Drewermann verkörpern sie psychologische, innere Kräfte der menschlichen Psyche. Und wer von uns kennt nicht das kitschig schöne Engelbild auf Glanzpapier? Todesengel wurde der berüchtigte KZ-Arzt Josef Mengele von seinen Opfern genannt.
Jahrhundertelang haben die Engel zum festen Glaubensbestand der christlichen Religion gehört. In der Scholastik stritt man sogar darüber, wie viele Engel wohl auf einer Nadelspitze Platz haben. Nicht wenige Theologen haben im Zuge der Entmythologisierung im Sinne Rudolf Bultmanns (seine Tochter lebte, nebenbei bemerkt, in St. Valentin a.d.H. und ist dort begraben) die Boten Gottes kurzerhand in die Rumpelkammer überlebter mythologischer Phantasie verbannt, wo sie zusammen mit Christkind, Nikolaus, Weihnachtsmann und Osterhasen verstauben sollten. Andere Kirchenmänner verteidigen dagegen noch heute die Existenz von Engeln. Sie zählen diese himmlischen Wesen zu den fundamentalen Glaubenswahrheiten und halten sie für unerlässlich zur Erweiterung des christlichen Bewusstseins und Lebensgefühls.
In der Literatur wimmelt es ebenfalls von Engeln in vielerlei Gestalt und unterschiedlicher Bedeutung. Goethe hat in seinem Faust ebenfalls Engel eingesetzt, die zu guter Letzt dem Teufel Faustens Seele
ablisten und sie zur Vollendung in den Himmel tragen. In irdischer Absicht mahnte Lessing seine männlichen Geschlechtsgenossen locker und salopp: „Lieb‘ ein Mädchen, keinen Engel!“. Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien enden mit der Feststellung: „Ein jeder Engel ist schrecklich.“ Hier steht der Engel fraglos für eine höhere, unsichtbare Welt, die sich als Macht bekundet und Erschütterungen hervorruft. Sarah Kirsch ruft aus: „Wer wüchse nicht gern mit einem Engel auf.“ Oft lassen die Dichter Engel in Extrem- oder Grenzsituationen auftreten, in denen Menschen elementare Erfahrungen machen wie die der Liebe, des Schmerzes oder des Sterbens.
Ein ungewöhnliches Engelbuch, das völlig aus dem Rahmen der bisher üblichen Publikationen fällt, ist Michel Serres‘ „Die Legende der Engel“. Bei ihm haben sich die Engel zu modernen Telegeschöpfen gemausert. Sie benutzen die heutigen Technologien mit all ihren Raffinessen, um mit Überschallgeschwindigkeit ihre Botschaften zu verbreiten. Sie sitzen in Halbleitern, Wendeschaltern, in Umformern, Gleichrichtern, Chips und Mikroprozessoren, in Großrechnern, Teleskopen, in den Cockpits der Flugzeuge und sind mit allen Systemen der modernen Datenübermittlung bestens vertraut. Als Adapter, Impulse, als Wellen, Codes, elektronische Signale bewohnen sie Maschinen, nisten sich in den Medien ein und versorgen uns mit wichtigen und oft auch überflüssigen Informationen aus aller Welt. Mit ihren einstigen Dienstleistungen, frohe Botschaften zu überbringen, die Geburt Jesu anzukündigen und andere Aufträge Gottes auszuführen, haben ihre jetzigen Funktionen nichts mehr zu tun. Stattdessen sorgen die heutigen Engel dafür, dass dieses Universum perfekt funktioniert und dass durch weit gespannte Kommunikationsnetze die Menschheit zu einer Einheit verschmilzt.
Serres‘ Engel sind folglich ein Sinnbild und Interpretationsschlüssel für unser modernes Kommunikationszeitalter. Der Einfall ist gar nicht so übel. Die schwer zu deutenden viereckigen „Brettchen“, auf denen die Marienberger Engel stehen, könnten somit als Laptop gedeutet werden.
Unsere Vorstellungen von Engeln haben vor allem Maler und Bildhauer geprägt: Fra Angelico, Jan van Eyck, Giotto, Boticelli und andere mehr. Auf verschiedenen Tafelbildern begleiten Engel die Menschen nach dem Sündenfall auf dem Weg aus dem Paradies. Jakobs Kampf mit dem Engel ist von Malern aller Zeiten und Schulen dargestellt worden, von Rembrandt, Delacroix, Moreau bis hin zu Gauguin. Im Rokoko kam die Tendenz zur Verniedlichung auf. Aus dem ehrfurchtgebietenden Himmelsboten wurde das putzige rundliche Kleinkind mit Spielzeugflügeln (Putte). Jede Zeit hat ihre eigenen Äußerungen und Vorstellungen. Selbst in unserem Jahrhundert haben sich zahlreiche Künstler um Engeldarstellungen bemüht.
Heute bin ich glücklich darüber, das vermeintliche „Nebenthema“ Engel in den Blick genommen zu haben. Falls es auch Ihr Interesse finden sollte, so freue ich mich selbstverständlich sehr.
Andreas Waldner