Portrait Herbert Pinggera, Stilfs
In der gemütlich urtümlichen Stube auf dem Fraggeshof sitzend, erscheint mir fast Ort und Zeit verwischt. Gebannt, gefesselt und fasziniert zugleich von den lebhaften Erzählungen des Fraggeser - so wird Herbert Pinggera weithin genannt - tauche ich zunehmend in seine interessanten Geschichten ein: Lokalgeschichtsunterricht aus längst vergangen Zeiten, dermaßen lebendig und detailliert vorgetragen, als wäre er selbst dabei gewesen. Jedes Stichwort, jede Frage führen Herbert sofort zu neuen historischen Begebenheiten.
Der Seniorbauer des bereits anno 1710 urkundlich erwähnten Gehöfts unterhalb des Wildgeheges hat sich nämlich schon seit jeher für historische Zusammenhänge aller Art brennend interessiert. So steht der Hofname Fragges selbst in engem Zusammenhang mit dem Schnapsbrennen, erläutert Herbert „A Fraggele isch a Moß Schnops!“ In Norddeutschland werde dieser Ausdruck noch heute verwendet, gibt er sich verklärt. Seine Vorfahren haben hier seinerzeit bereits Wacholderbeeren und Enzianwurzeln zu kostbarem Schnaps gebrannt.
Herbert holt in seinen Erzählungen immer wieder weit aus und spannt den Bogen von der Besiedelung in der Bronzezeit zur strategischen Lage von Kaschlin, einem uralten, sonnenexponierten Siedlungsgebiet nahe Stilfs und Fundort verschiedenster Relikte. Gleitend geht’s von den Spuren der grauen Urzeit chronologisch weiter zum alten Römerweg. Dieser diente ehemals auch Kirchgängern, welche zu Fuß von Stilfs zur Pfarrkirche nach Agums zur Hl. Messe pilgerten. Alle Betgänger der Gemeinde trafen damals bei „Wart am Stein“ zusammen, um gemeinsam zum Gottesdienst einzutreffen. „Der bis in die heutige Zeit erhaltene und begehbare Weg verläuft oberhalb der Gumser Kirche, über Gaschlin, Garwierg, Faslar bis zur Stilfser Alm. Dann geht’s weiter nach Trums, Trada, Kleinboden bis zu den Hl. Drei Brunnen“, vollzieht Herbert in Gedanken den Weg.
Ehe man sich jedoch versieht und in Gedanken noch beim Römerweg verweilt, findet man sich inmitten der Wirren des I. Weltkrieges mit seinem unmenschlichen Kräftemessen in Schnee und Eis wieder. Wobei wir bei einem seiner Herzensanliegen der letzten 20 Jahre angelangt sind: jenen 13 k.u.k. Soldaten, welche am 25. Februar 1916 beim „Graoßboden“ nahe der Prader Alm bei einem Lawinenabgang sterben mussten. So gelang es dem Hobbyhistoriker in akribischer Kleinstarbeit und mithilfe eines Professors des Wiener Kriegsarchivs, die genaue Herkunft der Verschütteten zu ermitteln und noch lebende Angehörige auszuforschen.
Mit der bereits im Jahre 1322 geschichtlich erwähnten und zu Münster gehörenden Stilfser Alm, einer der 1. im Obervinschgau, verbindet Pinggera sehr viel. Im fernen Jahre 1952 hat er seine Arbeit dort begonnen. Jedes Jahr trug er gemeinsam mit seinem Bruder die schwere Lichtmaschine hinauf, um die mühsame Almarbeit etwas zu erleichtern. „Der Ortler Josef, ein Senner aus Valatsches, der bereits in der Schweiz tätig war, hat mit der jahrhundertealten Tradition gebrochen und die Butter in der Milchkammer gelagert und nicht mehr bei 10-15 Grad im Käsekeller, wie bis dato gehandhabt.“ Den ersten angeschafften Kühlschrank konnte man erst im 3. Jahr abzahlen, denn 6000 Lire waren viel Geld und die meisten Bauern standen technischen Neuerungen sehr kritisch gegenüber. So war es einst in den Köpfen von Bauern und Sennern festeingefahren, dass erst im Herbst Butter und Käse die Alm verlassen durften und da es weder Eiskasten noch Kühlzelle gab, war die Butter zum Almabtrieb nicht selten ranzig, „lai dr Kas isch olle Tog bessr gwortn!“ Im Laufe der Zeit mussten sich jedoch auch die heftigsten Widersacher die Nützlichkeit des Kühlschranks eingestehen. Doch Herbert, der begabte Tüftler und mit Weitblick agierende Almmeister (von 1979-2009), ließ sich nicht beirren, obgleich er dafür viele Nächte werkelnd und arbeitend der Alm opferte, zudem ja auch die Arbeit auf dem eigenen Hof erledigt werden wollte. „Das Klosett wurde in den 60er Jahren gebaut und 1972 wurden die Melkmaschinen gerichtet“, erzählt Herbert. „Einmal kam eine Kommission, mit der Auflage, dass man die Alm nicht absperren dürfe … nun, die Finanzer haben sie auch trotzdem aufgebracht!“ Viel Widerstand gab es, als er den Käsekeller umplatzieren wollte, da die gesamte Almbesatzung mit ihrem dreckigen Schuhwerk erst diesen durchqueren musste, um in die Wohnräume zu gelangen. „Wie ein Damoklesschwert schwebte die Last über mir, ob der neue Keller wohl gleich gut sein würde, wie der Alte es gewesen war. Doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt und Althergebrachtes ist nicht immer notgedrungen das Bessere!“ Von seiner großen Passion, der Alm, ist der leise Pionier von damals auch heute immer noch gefesselt und hat sich trotz Weitblicks und nüchternen Bodenständigkeit seine Leidenschaft für das historische Gut der Heimat stets erhalten.
Wer Gelegenheit hat mit dem Fraggeser Herbert ins Gespräch zu kommen und sich seines Humors und originalen Pointen erfreuen darf, wird ebenso von seinem Elan und einmaligen Gedächtnis voller geschichtlicher Fakten fasziniert sein …
Renate Eberhöfer
Zeitung Vinschgerwind Bezirk Vinschgau