Franz-Tumler-Literaturpreis: Die Nominierungen – Teil 4
Limmat Verlag, Zürich, 2017, 256 S., 30 Abb.
Diese Schweizer Romannominierung hat mich an das Märchen von Hänsel und Gretel erinnert: Zwei Kinder sind auf sich alleine gestellt. Ihre Väter kennen sie nicht, die Mutter lieben sie, fühlen sich stark mit ihr verbunden, haben aber allen Grund zur Unruhe und Sorge. Mutter tanzt in einem Nachtlokal, trinkt, schläft viel, bringt fremde Männer nach Hause oder lässt die Kinder alleine. Dann wendet sie sich aber auch wieder den Kindern zu. Anais, die große Schwester von Bruno, gibt den Ton an, ihre Erzählstimme dominiert den Roman und sie ist es auch, die den Bruder führt, ihm Wärme und Schutz bietet. „Mutter war aufgeweicht“, heißt es im Roman. Sie verflüchtigt sich mehr und mehr und die Kinder bauen sich ihre eigene Phantasiewelt, die ihnen Halt und Familie ist. Der Wald wird zu ihrem Rückzugsort und sie holen ihn in die verdreckte Wohnung, dort kann ihnen niemand etwas anhaben, auch der Riese vom Jugendamt nicht. Die Geschwister halten ihrer tristen Welt eine phantasievolle Gegenwelt vor, um zu bestehen, verwachsen sie mit der Natur. Anais spricht als scharfsinnige Beobachterin häufig von Gerüchen und Geräuschen, von Tieren und Pflanzen, manchmal sind es Platzhalter für die Gefühle, für Angst und Scham. Auch die Mutter kommt in einigen Kapiteln zu Wort, schaut zurück, erklärt, wie es so weit kommen konnte und wie sie mal glücklich und voller Energie, dann wieder niedergeschlagen und ohne Perspektive war. Ich glaube, über dieses Buch werden Sie nachdenken, wenn Sie es zugeklappt haben. Es bringt einerseits die Kraft der Liebe zur Sprache und zeigt andererseits, wie tief sich Verzweiflung anfühlen kann.
Maria Raffeiner
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