Dienstag, 23 August 2011 00:00

„Es hat viel wildere Zeiten gegeben“

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Der gebürtige Malser Volkmar Mair ist geschäftsführender Amtsdirektor im Amt für Geologie. Er kennt die geologischen Verhältnisse in Südtirol wie kaum ein anderer. Sind die jüngsten Steinschläge auch im Vinschgau ausschließlich natürliche Phänomene oder schlägt der Klimawandel bereits zu? Mair sagt, dass Steinschläge unter 2500 Metern mit dem Klimawandel nichts zu tun haben.

Interview & Fotos: Erwin Bernhart

Zeitung Vinschgerwind Bezirk Vinschgau

„Vinschgerwind“: Herr Mair, wenn der Berg kommt, werden unter anderem auch Sie gerufen. Können Sie des Nachts noch ruhig schlafen?
Volkmar Mair: Ich kann, Gott sei Dank, gut schlafen. Solche Einsätze beflügeln mich eigentlich und entsprechen meinem Naturell. Ich muss dazusagen, dass ich auch Glück hatte und in meiner 13-jährigen bisherigen Arbeitszeit im Landesdienst keine Verletzten und keine Toten erlebt habe. Die Problematik ist aufgrund der Gemeindezivilschutzkommission gut gelöst, auch weil dort die Kollegen von der Wildbachverbauung, vom Zivilschutz, von der Forstverwaltung, der Bürgermeister, der Gemeindearzt, die Carabinieri usw. vertreten sind. Analysen der Ereignisse werden in der Diskussion gemeinsam erörtert, man ist nicht allein. Für mich ist es wichtig, dass die Verwantwortung auf viele Schultern aufgeteilt wird. Das gibt einem Halt. Das ist für den Bürgermeister ebenso wichtig wie für den Landestechniker.


Als Geologe, bzw. als geschäftsführender Amtsdirektor im Amt für Geologie, landläufig Landesgeologe, kennen Sie Südtirol und als gebürtiger Malser den Vinschgau im Besonderen wie kein Zweiter. Steinschlag in Partschins, Steinschlag in Tschars usw.. Wo kommen die nächsten Steine herunter?
Wenn ich das wüsste, wäre ich der liebe Gott. Das kann man nicht sagen. Gott sei Dank, denn sonst könnte ich wirklich nicht mehr schlafen. Im Grunde genommen passiert sehr wenig im Verhältnis zur Fläche. Das hat zwei Gründe: Die wichtigen Siedlungsräume und die wichtigen Infrastrukturen sind zumeist im Talboden. Siedlungsplätze sind zum Teil mehr als 5000 Jahre alt und damit auch gut ausgesucht. Unsere Vorfahren waren helle Köpfe. Man sollte nicht vergessen, dass in 5000 Jahren Besiedlungsgeschichte solche Ereignisse immer wieder auftauchen. Das heißt, alles das, was am falschen Ort gestanden hat, existiert nicht mehr. Es gibt Beispiele, im Ötztal etwa, wo die Leute bei Vermurungen ihre Siedlungen verlegt haben oder weggezogen sind.
 

Haben wir, die aktuelle Bevölkerung, es verlernt, mit Steinschlägen oder Muren zu leben?
Ja und nein. Ich stelle bei meinen Exkursionen fest, dass Bergbauern oder Bewohner hoch gelegener Ortschaften, ein entspanntes Verhältnis zu Steinschlägen haben. Die Leute wissen, dass Steine oder Lawinen kommen. Die nehmen das relativ cool. Das ist die eine Seite. Andere Leute haben eine verstellte Sicht zu diesen Geschichten. Ein Beispiel: 1998 gab es bei Franzensfeste einen Murabgang auf die Autobahn. Fünf deutsche Urlauber fanden den Tod. Da ist die Presse aus ganz Europa gekommen und hat die Geschichte sehr aufgebauscht. Die Akzeptanz der Bevölkerung und der Medien ist für solche Sachen sehr gering. Wenn diese 5 Leute in einem Verkehrsunfall gestorben wären, wäre die Sache nach einigen Tagen vergessen gewesen. Das heißt, man akzeptiert viel leichter einen Verkehrsunfall als ein natürliches Ereignis. Das gibt mir schon zu denken.

Dieses geänderte Verhalten hat auch etwas mit den Bauweisen zu tun. In den Gemeinden fehlen Gefahrenzonenpläne. Wenn Sie mit dem Hubschrauber durch die Lande fliegen und Siedlungsteile in gefährdeten Zonen sehen, dreht es Ihnen nicht oft den Magen um?
Da muss man differenzieren. Beispiel Partschins: Das ist für mich ein positives Beispiel. Die Leute haben gewusst, dass in der „long Ahr“ immer wieder Steine abgehen. In den 1950er Jahren hat es dort gemurt. Bei unserem Einsatzplan hat man zu Beginn weiträumig evakuiert. Man hat aber nach genaueren Informationen die Evakuierung großteils aufheben können. Die Gemeindeverwaltung hat dort in den letzten Jahrzehnten sehr umsichtig gehandelt, weil die Häuser dort stehen, wo sie auch stehen dürfen. Mit genügendem Sicherheitsabstand. Ein Gefahrenzonenplan ist ja nicht ein Gefahrenschutzplan. Da werden Gefahren aufgelistet und ein Gefahrenzonenplan ist für die Zukunft gedacht. Auch wird damit eine Kostenwahrheit auf den Tisch kommen. Es ist ein Risikomanagement, ein Abwägen, was übrigens die Alten auch schon gemacht haben. Es gibt beispielsweise in Prad auf dem Murkegel bei St. Johann Häuser mit doppelstöckigem Keller. Das heißt, die Leute dort wissen, dass es alle zwei, drei Generationen Vermurungen geben kann. Dann hat man halt die Häuser erhöht. Man ist dort geblieben, weil die Situation insgesamt gut ist. Probleme haben wir aufgrund der Bauten in den technikbegeisterten 60er, 70er Jahren. Da gibt es Siedlungen, die wirklich Probleme bereiten.

Beispiele im Vinschgau?
Krasse Beispiele fallen mir da keine ein. Im Allgemeinen hat der Hausverstand und auch das Prinzip, welches in der italienischen Verfassung festgeschrieben ist, welches mir gut gefällt, das Prinzip nämlich, dass jeder in der Verwaltung handeln sollte wie ein guter Familienvater, das wurde bei uns grundlegend eingehalten.

Müsste, aus der Sicht des Geologen, in manchen Gemeinden nicht ein gigantisches Umsiedlungsprogramm anlaufen?
Nein, eigentlich nicht. Auch weil sowohl das staatliche Gesetzesdekret von 1998 und unsere Landesgesetzgebung sagt, dass bestehende Bauten auch in roten Zonen bleiben dürfen. Man wird diese durch Schutzbauten zu schützen versuchen. Eine Umsiedlung ist nicht vorgesehen. Allerdings gibt es in Südtirol die sogenannte Kubaturverlegung, die gibt es sonst nirgends. Einzelhäuser in landwirtschaftlichem Grün können damit aus Gefahrenzonen herausgenommen werden. Dieses an sich tolle Instrument eröffnet den Gemeinden Spielraum. Ein gutes Beispiel, wie man damit umgehen kann, ist das Hotel Tannenheim in Trafoi. Da gibt es eine Hangrutschung, die bis zu 40 Meter in die Tiefe geht. Nach langen Diskussionen wurde die dortige Wohnbauzone in landwirtschatliches Grün zurückgewidmet. Damit war eine Kubaturverlegung für das Hotel und damit für eine Neuinvestition gegeben. Für mich ist Trafoi ein gutes Beispiel, wie man vorhandene Instrumente in Gefahrenzonen nutzen kann.

Welche Schutzbauten sind derzeit im Vinschgau geplant?
Mit Ausnahme von Partschins sind derzeit keine größeren Schutzbauten geplant. Beim Flussraumforum Etsch soll dem Fluss mehr Raum eingeräumt werden. Die hochziehbare Brücke in Schluderns ist ein gutes Beispiel für einen Schutzbau.

Ihr Amt arbeitet bei solchen Projekten mit. Auch beim Projekt „VISO“. Was ist das?
Das Projekt „VISO“ ist eine Erhebung aller wichtigen Schutzbauten entlang der Infrastrukturen, vor allem entlang der Staats- und Landesstraßen. Von der ANAS haben wir damals viele Schutzbauten übernommen, allerdings fehlt jede Buchführung. Man weiß also nicht Bescheid über die Qualität, über das Alter, über den genauen Standort solcher Schutzbauten. Einmal ist es also eine Bestandsaufnahme und daraus soll eine Prioritätenliste aufgrund der Hangneigungen, Zerklüftungen usw. erstellt werden. Die Straßendienste und das Amt für Geologie arbeiten da eng zusammen.

Welche Schutzbauten erfüllen im Vinschgau besonders gut ihren Zweck?
Die Galerien in das Schnalstal funktionieren sehr gut. Die Straße ist selten gesperrt. Auch der Schutzdamm bei der Tankstelle in Karthaus erfüllt seinen Zweck. Die Galerien in Außersulden als Schutz gegen die Lawinen und die Galerie in Trafoi funktionieren sehr sehr gut. Die Planungen dauern für derartige Schutzbauten zwar etwas länger, weil sie gut überlegt sein wollen, aber dann passt es.

Sind die gehäuften Steinschläge tatsächlich nur natürliche Phänomene oder gibt es da auch eine andere Erklärung?
Es sind natürliche Phänomene. Die Frage ist, ob sie gehäuft auftreten, weil der Mensch ein Gleichgewicht durcheinander gebracht hat. Stichwort Klimawandel. Die Geologen denken in großen Zeiträumen. Das Klima ist ständig im Wandel. In den letzen 100.000 Jahren war es schon wesentlich wärmer und auch wesentlich kälter als heute. Die derzeitige Klimaerwärmung ist nicht zu leugnen. Eines ist sicher: Warme Jahre haben mehr Steinschlag. Vor allem im Hochgebirge.

Die Steinschläge am Vinschger Sonnenberg hängen wohl nicht mit der Erderwärmung zusammen, weil dort die Sonneneinstrahlung grundsätzlich hoch ist.
Unter 2500 Metern kann man sicher nicht von einer Häufung sprechen. Da gibt es ein statistisches Problem. Wir sind froh, wenn uns die Leute Steinschläge melden. Auf der anderen Seite ist es so, dass auch sehr viele undifferenzierte Meldungen reinkommen. Das Handy und die Digitalkamera haben die Anzahl der Meldungen in die Höhe getrieben. Wenn für die statistische Auswertung nur größere Felsstürze hergenommen werden, kann von einer Häufung nicht gesprochen werden. Im Gegenteil. Wir leben in einer eher ruhigen Zeit. Vor 150 Jahren, beim letzten großen Gletschervorstoß der kleinen Eiszeit, hat es viel wildere Zeiten mit großen Übermurungen gegeben. Zum Beispiel die Überschwemmungen in Martell. Diese Zeit war mit den Großereignissen viel schlimmer und prägender.


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