Dienstag, 22 September 2015 12:00

„Herrlich trauriger Angstroman“ - Literatur hautnah beim Franz-Tumler-Literaturpreis

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s6 gruppenbildAlle zwei Jahre wird in Laas der Franz-Tumler-Literaturpreis für Debütromane vergeben. Mit dem 5. Mal im heurigen Jahr ist es ein kleines Jubiläum. Mit frischer, zeitgenössischer Literatur, der öffentlichen Debatte über die Romane in einer fachkundigen Jury wird Laas, wird der Vinschgau, für einige Tage mondän.

von Maria Raffeiner I Fotos: Franz Grassl

Isabells Leiden fesselt das Publikum. Ihre Angst und Anspannung bedrücken. Jemand seufzt. Isabell schreibt sich zur Beruhigung Zettelchen und steckt sie in die Hosentasche: „Meine Hände werden nicht zittern.“ So versucht sie die Unruhe zu steuern, die aufkommt, sobald sie im Orchestergraben sitzt und als Musikerin ihren Beruf ausüben soll.

Doch nicht nur dann entgleitet sie sich, auch im Alltag verliert Isabell Halt und sie und ihr Mann Georg werden von existenziellen Ängsten zermürbt. Das klingt höchst aktuell – und doch ist Isabell an diesem Freitag im Laaser Josefshaus nur eine ausgedachte Figur. Am Podium sitzt die 41-jährige Autorin Kristine Bilkau, flankiert von den Juroren. Sicher reiht sie die Worte aneinander, verleiht ihnen durch die Stimme mehr oder weniger Gewicht, streicht mit den Fingerspitzen über die Seiten ihres Romanes „Die Glücklichen“. Der Umschlag des Buches schimmert blau, zwischen den Buchdeckeln steht die Geschichte von Isabell und Georg geschrieben.  
Mit ihrem Debütroman wurde die Hamburger Schriftstellerin zum Franz-Tumler-Literaturpreis nach Laas eingeladen. Der Namensgeber Franz Tumler (1912-1998) war ein in Bozen geborener und in Oberösterreich und Berlin wohnhafter Autor mit starkem Bezug zu Südtirol und Laas. Die erste Phase seines Schreibens war von der NS-Ideologie geprägt. Nach 1945 entfernte er sich davon und entwickelte  eine neue Art des Schreibens, er zählt zu den Wegbereitern der literarischen Moderne. In den 60er und 70er Jahren war er in Berlin auch Förderer von jungen Schriftstellern. Daran und an seine Verbindung zu Laas und seinen Bewohnern soll dieser Literaturpreis erinnern und zur Förderung von jungen Schreibenden beitragen.

s6 juryWährend Kristine Bilkau liest, macht sich die Jury letzte Notizen. Ein Fotoapparat klickt leise, der Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Einige Oberschulklassen nützen die Gelegenheit, jungen Autorinnen zu begegnen. An der Wand lehnt eine großformatige Fotografie, sie zeigt Franz Tumler, er blickt den Betrachter fragend an und zieht an einer Zigarette.
Die Wiener Literaturkritikerin Daniela Strigl hat die Autorin Kristine Bilkau für den Preis nominiert. In ihrem Plädoyer unterstreicht sie die Brisanz der im Roman geschilderten Situationen. „Die Glücklichen ist ein erstaunliches Beispiel für ein sehr düsteres Buch, das keinen hoffnungslosen Eindruck beim Lesen hinterlässt.“, spricht sie ins Mikrofon. Die Autorin schaut gespannt in die Runde, senkt dann wieder den Blick, die Juroren hören konzentriert zu. Nacheinander besprechen sie das Werk, Manfred Papst, Journalist aus der Schweiz, zeigt sich von den „Schilderungen der Angst“ beeindruckt. Er bescheinigt dem Roman „Schönheit und Präzision“.  Mit einem Winken macht Juror Gerhard Ruiss den Moderator auf seinen Redebeitrag aufmerksam. Die Worte prasseln in großer Geschwindigkeit auf die Zuhörer ein, Ruiss widerspricht den Vorrednern und weist auf die „bejahenden, spritzig-witzigen Elemente“ des Romanes hin. Bei aller Düsternis und Depression habe eine Sinnkrise auch ermutigende Kraft. Dem pflichtet auch Juror Toni Bernhart, Literaturwissenschaftler aus Prad/Berlin, bei. Der Roman sei beides, deprimierend und bejahend zugleich, ein „herrlich trauriger Angstroman“ mit dem Verschwimmen von Wirklichkeit, Möglichkeit und Traum. Der Juror Gregor Sander, Autor aus Berlin, war 2007 mit seinem Erstlingswerk zum Franz-Tumler-Literaturpreis nominiert. Er kennt die Situation des In-der-Mitte-Sitzens und Geduldig-Zuhörens, was die Fachleute über den eigenen Roman denken. Aufmerksam verfolgt er die Debatte der Kollegen, dann schaltet er sich mit seinen Beobachtungen ein. Die Zuhörer murmeln, als sich die Diskussion etwas zuspitzt, die Juroren sind sich nicht einig, ob und in welchem Ausmaß die Protagonisten in Lügen verstrickt seien. Eine kontroverse Diskussion über die Gegenwartsliteratur scheint dem jungen Saalpublikum zu gefallen.

s7 hofmannKristine Bilkau hat die Lesereihe eröffnet, nacheinander folgen die Schriftstellerinnen Sandra Gugic´ („Astronauten“), Petra Hofmann („Nie mehr Frühling“), Margit Mössmer („Die Sprachlosigkeit der Fische“) und Gesa Olkusz („Legenden“). So unterschiedlich wie die gewählten Erzählweisen, Themen und Figuren der Romane sind auch die Anmerkungen der Jury. Es werden Vergleiche mit anderen Werken oder Filmen gezogen, formale und inhaltliche Schwächen und Stärken aufgezeigt, stilistische Feinheiten nachgewiesen. Großteils zeigen sich die Experten fasziniert von den fünf Romanen, die Debatte bleibt freundlich. Auch am Nachmittag, die Schulklassen sind längst nach Hause, finden sich an die achtzig Literaturinteressierte in Laas ein. Sie applaudieren anerkennend, einige halten die gelesenen Bücher in der Hand, andere kaufen sie sich beim Büchertisch im Foyer. Die Autorinnen signieren und plaudern mit den Anwesenden.

Auf dem Weg durch Laas gelangen die Gäste an Geschäften und Lokalen vorbei. In den Schaufenstern entdecken die Autorinnen und Juroren Bilder von sich, Manfred Papst schießt belustigt Fotos. Die Kaufleute präsentieren jeweils eine Person und weisen so auf das Wettlesen in ihrem Dorf hin.

Abends füllt sich die profanierte Markus-Kirche in Laas. Die Autorinnen schauen erstaunt, als sie die Stühle in der Apsis sehen. „Autorinnen sind doch oft scheue, zurückgezogene Menschen“, raunt eine Finalistin. Eine Literaturbloggerin aus Essen fragt, wie es denn dazu käme, dass dieser Raum für eine Literaturveranstaltung genutzt werde. Ihr Blick schweift über die Fresken und bleibt an der Holzkonstruktion im Dachbereich hängen. Blasmusik hallt durch den Raum, die Klänge  vermischen sich mit dem Glockenläuten der Pfarrkirche nebenan.
Der Bürgermeister der Gemeinde Laas, Andreas Tappeiner, erläutert den Hintergrund des Literaturpreises, der heuer zum fünften Mal stattfindet. Tappeiner s7 publikumspricht von der organisatorischen Herausforderung und dankt dem Südtiroler Künstlerbund und dem Bildungsausschuss Laas sowie der Referentin für Bildung und Kultur der Gemeinde Laas, Verena Tröger, für die geleistete Arbeit. Dann ergreift Landesrat Philipp Achammer das Wort. Seine Hochachtung gelte den Debütantinnen, die sich mit ihren Romanen an die Öffentlichkeit gewagt haben, und der fachkundigen Jury.
Zunächst wird der Publikumspreis bekannt gegeben. Aus mehreren Bibliotheken des Landes sind Stimmzettel nach Laas gelangt und auch das Saalpublikum konnte nach den Lesungen mitentscheiden. „Nie mehr Frühling“ hat die Leserschaft am meisten beeindruckt. Petra Hofmann freut sich sichtlich über die Auszeichnung, die ihr von Raimund Rechenmacher (Verein der Vinschger Bibliotheken) und Margit Kuntner (Bibliothek „Franz Tumler“, Laas) überreicht wird. Sie hält das Bild eines Gehöftes in den Händen, es handelt sich um den Rimpfhof am Vinschger Sonnenberg, dort darf die Autorin zwei Wochen lang wohnen.
Schon zum zweiten Mal hat Jurorin Daniela Strigl in Laas den richtigen Spürsinn bewiesen, denn die Entscheidung der Jury fiel auf die von Strigl nominierte Autorin Kristine Bilkau. Sie darf sich über das Preisgeld von 8000 Euro, gestiftet von der Südtiroler Landesregierung, und einen Schreibaufenthalt in Laas freuen und Franz-Tumler-Literaturpreisträgerin nennen. Die Autorin strahlt, als sie die Marmorplatte mit goldener Aufschrift entgegennimmt. Mit klarer Stimme richtet sie einige Worte an die Anwesenden, sie spricht von der Wichtigkeit dieses Literaturpreises, der einerseits die Debütantinnen ins Blickfeld der Öffentlichkeit rücke und andererseits eine Auseinandersetzung mit dem Namensgeber Franz Tumler anrege. Sein Werk und seine Biographie, die auch dunkle Flecken enthalte, seien so weiterhin präsent.  

Für einige Minuten gewährt die Gewinnerin noch einmal ein Abtauchen in die Welt von Isabell und Georg, indem sie die ersten Seiten ihres Siegerromans vorliest. Einige Zuhörer nicken anerkennend, viele sind der Einladung in die Markus-Kirche gefolgt. Nach der Veranstaltung tauschen sie sich noch aus, sprechen über die Eindrücke des intensiven Tages voller Geschichten und Bilder. Josef Feichtinger, Kenner der nominierten Romane und selbst Autor,  freut sich im Vorbeigehen: „Mein Tipp hat gewonnen!“

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