Natur&Landschaft - In der Alpin- und Nivalstufe - Leben an der oberen Grenze in unseren Bergen

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Das Suldner Dreigestirn von links nach rechts: Königsspitze, Zebrù und Ortler Das Suldner Dreigestirn von links nach rechts: Königsspitze, Zebrù und Ortler

Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Bernhard von Clairvaux, 20. August 2024

 

In den Bergen gibt es verschiedene Höhenstufen der Vegetation. Die Begriffe planar, kollin, montan, alpin und nival werden in der Geobotanik, Biogeographie und Ökologie als Nomenklatur für die Höhenstufen mit den dazugehörigen Klimatas und der potentiellen natürlichen Vegetation verwendet.
Von den Talsohlenböden unserer Haupttäler aufwärts folgt auch in Südtirol auf die montane Stufe des Fichtenwaldes (bis ca. 1.500 m MH) die subalpine Stufe des Bergwaldes (1.500-2.200 MH), in welcher Lärchen und Zirben als Waldbäume dominieren. Darüber liegt die alpine Stufe des Latschen- und Zwergstrauchgürtels und der alpinen Rasengesellschaften bis ca. 3.000 m MH. Die Latschen oder Legföhren sind an kalkige Böden gebunden.
Auf die alpine Stufe folgt als oberste Höhenstufe die nivale Stufe (ab 3.000 m MH). nivalis ist lateinisch und bedeutet „beschneit“. Die nivale Höhenstufe oder Nivalstufe (englisch: nivale zone) ist die oberste Vegetationsstufe vieler Hochgebirge und bezeichnet Bereiche mit Frostschutt, Schnee, Eis und Fels. Hier oben ist die Vegetationsdecke nicht mehr geschlossen, sondern lückig. Aus geobotanischer Sicht wird nach unten zur Alpinstufe hin manchmal noch eine subnivale Zone unterschieden.
Die nivale Vegetation besteht vorwiegend aus niederen Pflanzen oder Sporenpflanzen wie Algen, Moosen, Flechten, Bärlapppflanzen und Farnen und Pilzen. Für die meisten höheren Pflanzen mit Blüten- und Samenbildung ist die Obergrenze ihrer Verbreitung in der alpinen Stufe erreicht. Wenige kälte- und austrocknungsresistente Blütenpflanzen wie der Gletscher-Mannsschild (Androsace alpina) oder der Gletscher-Hahnenfuß (Ranunculus glacialis) überleben in der Nivalstufe.
Nach einer Untersuchung von Christian Körner sind 0,4% der Landoberfläche (ohne Antarktika) der nivalen Höhenstufe zuzurechnen; das sind 3% aller Gebirgsregionen. Christian Körner war zu meiner Studentenzeit in den 1970er-Jahren Assistent am Institut für Botanik der Universität Innsbruck und nach seiner Habilitierung war er bis zu seiner Emeritierung Ordinarius für Botanik an der Universität Basel. Körners Forschungsschwerpunkt war die Experimentelle Ökologie der GebirgsblumenPflanzen, im Besonderen der Pflanzen im Hochgebirge und im Forstbereich.
Jetzt im Sommer können wir von den jahreszeitlichen Bedingungen her bei unseren Bergwanderungen und -touren weit in die Nivalstufe vorstoßen.
Daher will ich im heutigen Beitrag drei Arten von Blütenpflanzen mit besonderen Anpassungen an die Bedingungen dieser Extremstandorte und die Nöte des Schneehasen kurz vorstellen.

Feinabstimmung zwischen Blüten und Bestäubern: Der Gletscherhahnenfuß
Der Gletscherhahnenfuß (Ranunculus glacialis) hat sukkulente (fleischige) Blätter, die ihn zum Höhenweltrekordler unter den Blütenpflanzen machen. In seinem Zellsaft lagert der Gletscher-Hahnenfuß den Alkohol Glykol als Frostschutzmittel ein. Glykol führt zu einer Gefrierpunktdepression. Dadurch wird die Pflanze sehr frostresistent. Sie kann im Winter Temperaturen bis zu -40° C überstehen. Alkohol als Frostschutzmittel wie im Autokühler ist von der Natur schon sehr viel früher erfunden worden als von uns Menschen.
Mit zunehmender Meereshöhe gibt es für die Blütenpflanzen immer weniger Bestäubungsinsekten. Die stärker behaarten Hummeln steigen in den Bergern höher auf als die Honigbienen und übernehmen in der Höhe vielfach die Bestäubung von insektenbestäubten Blütenpflanzen. Und es gibt feine Abstimmungen und Signale zwischen Blüten und Bestäubern: Die frisch aufgeblühten, noch unbestäubten Blüten des Gletscher-Hahnenfußes sind rein weiß gefärbt. Die bereits bestäubten Blüten färben auf rosarot um und signalisieren den Bestäubungsinsekten, dass es hier keinen Pollenstaub und Nektar mehr zu holen gibt.
Dieses Prinzip der Blütenumfärbung vor und nach der Bestäubung gibt es bei mehreren Blütenpflanzen. Weitere Beispiele wären die Roßkastanie, bei der die Blüten von weiß auf rosa umfärben. Dann auch das Lungenkraut (im volkskundlichen Namen der „Blaue Himmelschlüsssel“), bei dem die Blüten von karminblau auf hellrosa umfärben oder der Hornklee („Muater Gottes Patscchln“). Bei Letzterem färben die unbestäubten strohgelben Blüten auf orangerot nach der Bestäubung um.

Polsterwuchs
Das Stängellose Leimkraut (Silene acaulis) und der Gletschermannschild (Androsace alpina) sind zwei Arten von Blütenpflanzen, welche auf gerölligen Rohböden im Gletschervorfeld als Pionierpflanzen wachsen. Ihre morphologische Wuchsform ist der eng an den Boden angeschmiegte Polsterwuchs. Das Stängellose Leimkraut gehört zur Familie der Nelkengewächse und bildet dichte Kugelpolster. Der Gletscher-Mannschild wächst in kleineren, dichten Flachpolstern oft in direkt an Steinen, die sich in der Sonne stärker aufwärmen, die Wärme speichern und langsam wie eine Bettflasche abgeben. Der Gletscher-Mannschild ist ein Vertreter aus der Familie der Primelgewächse. Beide Pflanzenarten blühen rosa und haben 5 Kronblätter. Deswegen muss man schon genau hinschauen, um die beiden Pflanzenarten als verschiedene Arten anzusprechen. Hier eine kleine Hilfe: Der Gletscher-Mannschild ist an seinem gelben Auge vom Stängellosen Leimkraut zu unterscheiden. Das Stängellose Leimkraut hat hingegen weiße Fäden bei den Staubblättern, welche über die Kronblätter hervorstehen.
Der Polsterwuchs ist ein Kälte- und Verdunstungsschutz: Die Kugel ist die geometrische Form mit der kleinsten äußeren Oberfläche im Verhältnis zum großen inneren Volumen. Sich durch Verkleinerung der strahlungsausgesetzten Oberfläche vor Wasserverlusten über die Blätter durch Verdunstung zu schützen und trotzdem hinreichend Photosynthese für den Energiegewinn zu betrieben, heißt die Überlebensstrategie dieser Hochgebirgsspezialisten. Gleichzeitig können im großen Volumen im Inneren des Pflanzenkörpers Wasser und Nährstoffe gespeichert werden.
Und wenn es im Winter auf dem wind-aperen Grat als Wuchsort zu kalt oder im Sommer durch die hohe Ultraviolettstrahlung zu strahlungsintensiv und austrocknend wird, stirbt einfach ein Teil des Pflanzenkörpers ab und bildet Humus. Im Kern treibt die Pflanze neu aus. Pflanzen sind ja im Unterschied zu den Tieren ortsfest und können ihren Standort nur über die Samen wechseln.
Das Stängellose Leimkraut schafft es wegen seines effizienten Verdunstungsschutzes bis auf den Extremstandort Windgrat, der Gletscher-Mannschild duckt sich mit seinen kleinen Polstern im Mikroklima wärmender Steinnischen.

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