Dienstag, 20 September 2016 09:26

„...in Obloss gwunnen...“

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s17 3323Die Begegnung mit dem 88-jährigen Leo Christandl in Rifair bei Taufers i. M. hat mich mehr berührt als sonst. Denn sie brachte mich meinem Onkel Balthasar Schgör näher, den ich durch einen Unfall verloren habe, als ich ein halbes Jahr alt war. Die beiden waren gleich alt und gute Freunde.

von Magdalena Dietl Sapelza

Leo und mein Onkel brachen im Hl. Jahr 1950 am 20. April mit dem Rad nach Rom auf. Sie schliefen bei Bauern. Ein Brief des Frühmessers wies sie als Pilger aus. Zügig radelten sie südwärts trotz mancher Rad-Platten.

„Oan Potsch hoobmer mittelt in Florenz pickt“, erzählt Leo. Nach fünf Tagen erreichten sie das Pilgerbüro im Vatikan, wo sie eine Unterkunft zugewiesen bekamen. Staunend betraten sie den Petersdom und weitere Basilikas. „Norr hoobmer in Obloss gwunnen kopp“, sagt er. Anschließend trafen sie sich mit zwei jungen Frauen aus Taufers, die als Dienstmädchen in Rom arbeiteten. Auf der Heimfahrt sahen sie bei Civitavecchia zum ersten Mal das Meer und eine Saline. „Dr Balthasar hot s Wosser koschtet ums s Solz z schmeckn“, lacht er. Bei Livorno beeindruckte sie das amerikanische Kriegsschiff „Florida“ und in Pisa der schiefe Turm. „I hon seit selm olm a Kua mitn Nomen Florinda in Stoll kopp“, erklärt er. Am 7. April kehrten sie nach Taufers zurück. Neun Tage später trat Leo den Militärdienst in Orvieto an und kam kurz darauf erneut nach Rom, diesmal im Militärlastwagen.
Leo wächst als Ältester mit drei Geschwistern in Rifair auf. Er besucht die italienische Schule. „Es isch olz stockwalsch gweesn unt miar hoobm nicht glearnt“, betont er. Nachdem seine Eltern für Deutschland optiert haben, kommt Leo in die Schule für Volksdeutsche nach Elsass Lothringen. Zwei Jahre verbringt er dort in einer nationalsozialistischen „Anstalt“ mit rund 700 Buben. Die Familie daheim bereitet sich indes auf das Auswandern vor, denn in ihrem Hof haben sich bereits Faschisten eingenistet. Nach dem Einmarsch der Deutschen 1942 ziehen sich diese zurück und vom Auswandern ist keine Rede mehr. 1943 fallen Bomben auf die „Anstalt“. Diese wird aufgelassen und Leo kommt nach Innsbruck. Dort schafft er die Aufnahmeprüfung im Staatsforstamt und wird Förster in Reutte. Die Gegend wird 1945 zur französischen Besatzungszone und er erhält eine Identitätskarte, die ihn als Italiener ausweist. „Der Ausweis isch miar norr zun Verhängnis gwortn“, betont er. Bei einem Grenzübertritt erfährt er von seiner Wehrpflichtigkeit. 1948 quittiert er den Forst-Dienst und übernimmt auf Wunsch der Eltern die „Baurschaft“ und wartet auf seine Einberufung zum Militär. Nach der Romreise ist es soweit. 18 Monaten dient er dem Staat. Anschließend legt er als Bauer Hand an. In der Freizeit trifft er sich mit Balthasar. Zweimal planen sie von der Payerhütte aus die Ortler-Besteigung. Doch jedes Mal verhindert schlechtes Wetter den Gipfelsturm. Regelmäßig verdienen sie sich als Mader in Tschierv einige Schweizer Franken. Beim Heuabseilen am 26. Juli 1956 setzt sich Balthasar in die Truhe der Drahtseilbahn. Beim Absprung im Tal prallt er mit dem Kopf gegen einen Pfahl und stirbt. „Den Annatog wear i nia mea vergessn“, sagt Leo.
Er stürzt sich in die Arbeit. Als engagierter Landwirt, als Waaler, als Arbeiter in der Säge und als Alp-Meister packt er tatkräftig an. 1959 heiratet er die 13 Jahre jüngere Elfriede Noggler aus Burgeis, die als Magd auf seinem Hof arbeitet. Vier Kinder kommen zur Welt. Eine schwere Zeit beginnt, als bei Elfriede 1971 ein Gehirntumor diagnostiziert wird. In Innsbruck wird sie operiert. „Di Operation hon i zersch gmiaßt selber zohln“ erklärt er. Damals darf man keine größere Geldsumme über die Grenze mitnehmen. Die vier Millionen Lire schmuggelt Leo im Saum eingenäht nach Innsbruck. „Dia hoobm gschaug, wenn i pa dr Kassa a Schaar verlong hon“, sagt er. Der Tumor ist gutartig und Elfriede erholt sich. Einige Zeit später muss erneut ein Tumor an der Bauchspeicheldrüse operiert werden. Auch dieser wird entfernt und Elfriede findet wieder Freude am Leben. 1978 kommen Zwillinge zur Welt. Als diese ein Jahr alt sind, kehrt der Tumor zurück. Wieder wird operiert. Die Sorge um die Frau und Mutter lässt Leo und die sechs Kinder nicht mehr los. Ein Arzt-Termin folgt dem nächsten. Die größeren Kinder kümmern sich um die Kleineren. Die Medikamentendosis, die Elfriede ständig einnehmen muss, belastet zunehmend ihrer Psyche. Sie kommt schließlich ins Martinsheim nach Mals, wo sie 2013 stirbt. „Si isch a holbs Lebm long kronk gweesn“, meint Leo.
Heute lebt er mit drei Söhne auf dem Hof. „Miar sain olz Leidige“ scherzt er. Die Töchter schauen regelmäßig vorbei. Leos Leben ist beschwerlich geworden. Besonders leidet er unter dem Verlust der Sehkraft. Auch fernsehschauen kann er nicht mehr. „I konn lei mea lousn, unt sell lai, wenns laut isch“. Die Feiern zum Hl. Jahr 2016 in Rom kann er nur noch mithören.

 

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