Dienstag, 11 Juli 2017 00:00

Gemeindearchiv Prad-Agums

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s22 1 Ludwig VeithAlles begann mit der Ahnenforschung. Ludwig Veith, Jahrgang 1949, Elektrotechniker in Prad, begann 1979 mit der Erforschung seiner Familiengeschichte. Sein Großvater Alois Veith, Jahrgang 1852, wanderte mit 18 Jahren zusammen mit seinen Brüdern nach Amerika aus. Hungersnot und Arbeitslosigkeit führten dazu, dass rund 35 Millionen Europäer in die Neue Welt aufbrachen.

Auch rund 100 Personen aus Prad wanderten aus, um in Amerika ein neues Leben zu beginnen. Alois Veith arbeitete 8 Jahre als Steinmetz in Amerika und kehrte dann als einer der wenigen auf Bitten seiner Mutter wieder nach Europa zurück. Diese bewegte Geschichte seines Großvaters brachte Ludwig  Veith auf Spurensuche nach seinen Wurzeln und führte dazu, dass er sich über drei Jahrzehnte mit der Familien- und mit der Dorfgeschichte auseinandersetzte. Diese Arbeit wurde zu einem Abenteuer, einer Suche nach verschiedenen Quellen, die gesichtet, geordnet und inventarisiert werden mussten. Er musste die alten Schriften lesen lernen und vor allem musste er den Inhalt verstehen lernen. Alles musste aufgearbeitet, teils transkribiert und an einem Ort zusammengeführt werden. Stolz zeigt mir Ludwig im Gemeindehaus einen feuerfesten Metallschrank, in dem seit 2014 das Gemeindearchiv mit dem gesamten Schriftgut verwahrt und unter Aufsicht für alle zugänglich gemacht wird. In einer Broschüre, bestehend aus 130 Seiten, hat Ludwig Veith alle Schriftstücke der verschiedenen Bestände zu einer „Inventur des Historischen Gemeinde-Archivs Prad-Agums“ von 1445 bis 2016 zusammengefasst und übersichtlich geordnet, so dass man Originalschriftstücke im Archiv finden kann. Durch diese Arbeiten hat Veith nicht nur wertvolle Schriftstücke gerettet und das erste Gemeindearchiv einer Vinschgauer Gemeinde aufgearbeitet und inventarisiert, er ist auch zu einem Dorfchronisten und Heimatforscher geworden, hat die historischen Dorfpunkte beschrieben und gibt seit vielen Jahren jährlich eine Dorfchronik heraus.

Alte Schriftstücke auf der Mülldeponie und auf dem Dachboden  

Als Ludwig Veith seine Ahnenforschung begann, führte man ihn auf den Dachboden des alten Gemeindehauses. Dort lagen viele alte Schriftstücke in einem beklagenswerten Zustand unter einem undichten Dach. Zufällig fand er sogar auf der Mülldeponie „Prader Sand“ alte Dokumente aus dem Gemeindearchiv. Die erste Sammlung, die Veith anlegte, war das „Familienarchiv Veith vulgo Brugger“. In den Jahrhunderten vor dem Ersten Weltkrieg wurden viele Dokumente nicht in der Gemeinde, sondern bei den jeweiligen Dorfmeistern in einem eigenen Schrein, dem „Dorfmeister-Kastl“ aufbewahrt. Der „Prader-Dorfmeister-Schrein“ ist ein gezimmerter Schrein mit seitlich angebrachten Tragehenkeln und einem Doppelschloss. Der Dorfmeister besaß einen Schlüssel, den zweiten Schlüssel verwahrte der Gemeindekassier bzw. der Gemeindeanwalt (d.h. der Sekretär). Nur zusammen konnten sie den Schrein öffnen und Urkunden herausnehmen. Nach erfolgter Neuwahl des Dorfmeisters wechselte der Schrein zum neuen Verwalter. Auch der Archivschrank in der Sakristei zu St. Georg in Agums aus dem Jahre 1713 konnte nur mit zwei verschiedenen Schlüsseln geöffnet werden. Neben Urkunden von kirchlichem Interesse wurden dort auch jene von Gemeindeinteresse verwahrt. Die älteste Urkunde stammt aus dem Jahre 1371. Nach dem Neubau der Pfarrkirche in Prad und nach der Übersiedelung in den Widum von Prad im Jahre 1958 wurden auch die verschiedenen Dokumente aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert der ehemaligen Gemeinden Prad und Agums aus dem Archivschrank der alten Sakristei zu Sankt Georg nach Prad überführt. In drei Holzkoffern s22 3 Urkunde Pastlwieshofwurde der Urkunden- und Schriftbestand im Treppenhaus des Turms irgendwo achtlos gelagert. Im Jahre 1990 führte Adolf Bernhart, ehemaliger Volksschullehrer und Heimatpfleger, Ludwig Veith zum Vellnairhof, einem der inneren Prader Berghöfe. In der Bauernstube stand ein aus Fichtenholz gemachter Schrein mit einem Doppelschloss, das „Kolter-Archiv von Valnayr“. Der damalige Jungbauer öffnete den Schreindeckel mit einem gezielten Fußtritt. Eine Inventurliste aus dem 19. Jahrhundert durfte Veith mitnehmen. Erst vier Jahre danach bekam Veith auf Umwegen Zugang zu einigen Dokumenten. Es hat dann nochmals bis 2014 gedauert, bis Veith das gesamte Archiv (insgesamt 106 Schriftstücke) bekam und für die Öffentlichkeit zugänglich machen konnte. Das älteste Dokument aus dem Kolter-Archiv stammt aus dem Jahre 1445. Neben diesen historischen Schriften aus der Sakristei von Agums, dem Kolter-Archiv von Valnayr, dem Familien-Archiv-Veith, besteht das Historische Gemeindearchiv noch aus dem historischen Schriftgut „Baldauf“, verschiedenen Unterlagen über die „Sennerei-Interessentschaft“ und weiteren Sammlungen. Das wertvollste Schriftgut des ganzen Gemeindearchivs ist das „Maria Theresianische Kataster“ von 1781/87. Unter den weiteren Sammlungen findet man eine Dienstbotenordnung von 1827, eine Feuerordnung von 1817, eine Waldordnung von 1830, das „Suldenbachbau-Schichtenbuch“ von 1871-1877, die Wetteraufzeichnungen von Paul Wallnöfer, die „Gemeindeamts Raitungen“ (Rechnungen) von 1748 – 1922 und weitere Unterlagen.

Alm-, Weide-,  Holz- und Wasserrechte, Verträge, Streitigkeiten und Rechnungen

Die verschiedenen Dokumente des Gemeindearchivs sind ein Spiegelbild der bäuerlichen Welt der letzten Jahrhunderte. Es geht vor allem um Alm-, Weide-, Holz- und Wasserrechte, zu finden sind auch Gerichtsvorladungen und Streitigkeiten zwischen Einzelpersonen mit der Gemeinde oder zwischen Dorfgemeinschaften, es enthält Spesenabrechnungen, Gemeindebeschlüsse, die Genehmigung von Mühlen, Wasserwerken, Wasserleitungen, Bau- und Schürfrechten, Unterlagen über die Etschverbauung, die Verbauung des Suldenbaches und anderer Bäche, es geht um Bräuche, Maße und Gewichte, Steuern und Grenzstreitigkeiten. Kaufurkunden, Nachlassregelungen, Versteigerungen, Schuldscheine und Aufstellungen aus dem Armenfond, sowie verschiedene Regelungen und Verordnungen enthält das Gemeindearchiv. Das Schulwesen, das Gesundheitswesen, Militärangelegenheiten, Steuerregelungen, Unterlagen zum Kirchenbau, zum Wegebau und anderer Dorfangelegenheiten liegen auf.

Von Chronisten als Einzelkämpfer zu einem landesweiten Chronistenwesen

Ludwig Veith ist ein lebendiges Beispiel eines Einzelkämpfers, wie es sie zum Glück auch in anderen Gemeinden gibt. Diesen Menschen ist es zu verdanken, dass viele alte Dokumente gerettet und der Nachwelt erhalten geblieben sind. Am 1. Juni 1991 gab es im Ansitz Plawenn das erste Obervinschger Chronistentreffen. In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich viel geändert. Heute gibt es in fast allen Gemeinden Dorfchronisten, die fleißig sammeln und Archive aufarbeiten. Robert Kaserer war von 2010 bis 2013 der erste Landeschronist. Hermann Theiner aus Latsch hat bereits 1996 das „Historische Archiv des Spitals zum hl. Geist in Schlanders“ aufgearbeitet, Werner Kuntner hat 2000 das „Historische Archiv der Gemeinde Kortsch“ inventarisiert, Claudia und Hermann Theiner haben 2007 das „Wielanderarchiv“ in Schlanders aufgearbeitet. David Fliri aus Taufers bearbeitet das Archiv in Marienberg und die verschiedenen Pfarrarchive. In mehrjähriger Arbeit hat Werner Kuntner ab 2009 unter Mithilfe von verschiedenen Praktikanten das historische Archiv der Bezirksgerichte Schlanders, Glurns und Nauders aufgearbeitet und ein Inhaltsverzeichnis verfasst. Über 23.000 Gerichtsakten wurden bearbeitet und stehen der Öffentlichkeit zur Verfügung. Es gibt noch andere Chronisten, die nicht nur die Jahreschroniken herausgeben, sondern auch Archive aufarbeiten und darauf achten, dass alte Dokumente nicht auf dem Müll landen oder auf Dachböden verschimmeln, sondern einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.
Heinrich Zoderer

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