Dienstag, 11 Juli 2017 00:00

Mascha Dabić: Reibungsverluste

Artikel bewerten
(0 Stimmen)

s22sp2 dabicEdition Atelier, Wien, 2017, 151 S.

Franz-Tumler-Literaturpreis: Die Nominierungen - Teil 1 Dabić erzählt einen Arbeitstag im Leben von Nora Kant, einer 30jährigen Dolmetscherin. Morgens - sympathisch chaotisch - zwingt sie sich ins Büro: Aus dem Russischen überträgt sie Texte und Gespräche ins Deutsche oder Englische. Sie arbeitet für einen Verein in Wien, der sich um Asylsuchende kümmert. In Therapiesitzungen nimmt sich Noras Kollegin Roswitha, eine Psychotherapeutin, jener an, die sich im „Aggregatzustand des Wartens“ befinden, sie hilft mit Worten, hakt nach, lässt schweigen und weinen. Nora sitzt daneben und dolmetscht – gibt wieder, was sie aufgenommen und blitzschnell in die deutsche Sprache gedreht hat. Phrasen werden angepasst, sinngemäß vermittelt. Ohne Reibung, ohne Verluste soll dieser Vorgang sein, auch weil Reibung Wärme erzeugt und diese zur neutralen Rolle Noras nicht passt. Die Folterberichte, Kriegserfahrungen, Fluchttraumata, Schwierigkeiten im Heim, Emotionen der Klienten und schriftlichen Fallstudien sind aufreibend für Nora. Die Schicksale von Herrn Achmadow, Frau Magomadowa, Herrn Basajew und anderen lassen sie nicht kalt. Nora ist zwar nur die Zwischenfrau, aber als „Erstverstehende“ auch Mitwisserin. „Mit Staunen hatte sie zur Kenntnis genommen, dass ein Kopf, der soeben Zeuge einer derart s20 Dabicpervertierten Szenerie geworden war, wenn auch nur aus zweiter Hand, imstande war, weiterhin seine übliche Visage zur Schau zu tragen. Das also musste die sprichwörtliche Sprachgewalt sein, im eigentlichen Sinne des Wortes.“
Nora kommt mit Menschen und ihren Geschichten in Kontakt, trägt aber auch ihre persönlichen Geschichten in sich, nach all dem Hören, Sprechen und Wahrnehmen wird sie zur Erzählenden und lässt aufplatzen, was sie noch niemandem anvertraut hat. Während ihres Aufenthaltes in St. Petersburg hat sie einiges erlebt, Vladimir, Marina, Olga und Timothy haben Spuren in ihr hinterlassen. Absurde, schmerzhafte, schöne und solche, über die Nora lieber schweigt.
Ein Debütroman, der den NErvder Zeit trifft. Mascha Dabić erzählt ungekünstelt, lässt Russisches wie Englisches einfließen und verleiht dem Grauen Sprache und Pausen. Sehr lesenswert, auch weil uns unaufdringlich nähergebracht wird, was wir nicht wahrhaben wollen.
Maria Raffeiner

{jcomments on}


Warning: count(): Parameter must be an array or an object that implements Countable in /www/htdocs/w00fb819/vinschgerwind.it/templates/purity_iii/html/com_k2/templates/default/item.php on line 248
Gelesen 2273 mal

Schreibe einen Kommentar

Make sure you enter all the required information, indicated by an asterisk (*). HTML code is not allowed.

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.