Dienstag, 31 März 2015 00:00

Georg Paulmichl - Ein Dichter in der Behindertenwerkstatt

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s28sp1 Dietmar Raffeiner Georg PaulmichlDie alten Leute rücken von der Ofenbank ab.
Sie wollen noch einmal das Leben wagen.
Die letzten Schneefelder zerrinnen vor dem Sonnenlicht.
Die Gesichter der Menschen werden wieder fröhlicher.
Das Wachstum und das Gedeihen lassen sich nicht mehr aufhalten.
(aus: Der Georg, Seite 76)


Das sind die letzten Zeilen eines Textes, der „Frühlingserwachen“ heißt. Das ist die Sprache von Georg Paulmichl.

Er ist 1960 geboren, stammt aus Prad und besucht seit 1977 die Behindertenwerkstatt, zuerst in Tschengels, dann in Prad. Georg ist geistig behindert, seit 2005 hat er Parkinson und seit einigen Jahren sitzt er im Rollstuhl. Das Reden fällt ihm schwer. Er muss betreut werden. Aber Georg Paulmichl ist berühmt, er ist ein Dichter und Maler, aber vor allem ein Sprachkünstler. Neun Bücher mit seinen Texten und Bildern gibt es, auf Wikipedia wird er als Südtiroler Schriftsteller und Maler vorgestellt, auf Youtube gibt es mehrere Ausschnitte von Lesungen und einen Film des ORF aus dem Jahre 1991. Es gibt eine Homepage über Georg und sein Werk, er hat im gesamten deutschsprachigen Raum Lesungen gehalten, es gab Ausstellungen und er erhielt zahlreiche Preise. Unter anderem das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, die höchste Auszeichnung der Republik Österreich für einen Künstler. Seine Heimatgemeinde Prad ernannte ihn 2007 zum Ehrenbürger. Im Herbst 2014 ist das letzte Buch mit Texten und Bildern von Georg Paulmichl unter dem Titel „Bis die Ohren und Augen aufgehen“ im Hymon Verlag erschienen. Am 12. Februar 2015 gab es einen Vortrag und eine Lesung in Innsbruck, am 13. März  2015 eine Ausstellung und Lesung in Zürich. Der Nordtiroler Autor Felix Mitterer ist nur einer von vielen Schriftstellern und Schauspielern, die von den Texten begeistert sind und diese vorlesen.

Georg ist das Kind einer Lehrerfamilie. Sein Vater Otto Paulmichl hat ihm schon sehr früh viele Geschichten vorgelesen und Georg konnte sich dafür begeistern. Mehrere Jahre war er in einer Sonderschule in Vorarlberg. Dort lernte er lesen und Hochdeutsch reden und zeichnen. In der Behindertenwerkstätte wurde viel gebastelt. Das konnte er nicht und das wollte er auch nicht. Er hat viel geredet und ging damit anderen auf die Nerven, bis sein Betreuer Dietmar Raffeiner anfing, das Gerede aufzuschreiben. Das war 1980. Am Anfang waren es Bildgeschichten. Georg zeichnete und Dietmar schrieb die Erklärungen dazu, die Georg von sich gab. Mit der Zeit entstand eine fruchtbare Zusammenarbeit, eine Kooperation, ein Dialog, ein spielerisches Entwickeln und Verarbeiten der Alltagserlebnisse von Georg. Dietmar Raffeiner saß an der Schreibmaschine, Georg erzählte, Dietmar stellte Fragen und schrieb die Antworten auf. In dieser Zusammenarbeit entstanden die Texte. Georg in Reinkultur gibt es nicht, sagt Dietmar Raffeiner. In diesem Dialog entstand ein Spiel mit Worten. Auf die Fragen kamen überraschende Antworten. In der Offenheit für das Zufällige und Spontane entwickelte Georg neue Gedankengänge, neue Wortschöpfungen, neue Verbindungen. Es sind kurze Sätze  mit klaren Aussagen. Er erzählt nicht, er argumentiert nicht, er stellt einfach fest. Und er stellt vieles auf den Kopf und kombiniert Unkombinierbares. Es sind geniale Wortschöpfungen, wie Felix Mitterer meint, die den Leser und Zuhörer zum Lachen bringen, aber auch zum Nachdenken.

Über die Schützen schreibt Georg Paulmichl: „Aufgabe der Schützen ist es, Habt acht zu stehen“ und am Ende des Textes „Ihre Freizeit verbringen sie bei einem gemütlichen Stutzen Bier. Nachher sehen sie die Heimat doppelt.“ aus: Der Georg, Seite 53

Im Text über Österreich schreibt er in der letzten Zeile: „Vom Kaiser Franz Josef blieb nur mehr der Kaiserschmarrn übrig“  aus: Der Georg, Seite 85

Überraschend und sehr phantasievoll sind mache Formulierungen: „Hinter dem Nebel versteckt sich die Sonne und faulenzt den ganzen Tag. Gegen den Nebel kann man nichts machen, man muss ihn seinen Lauf lassen.“ aus: Der Georg, Seite 80
Im Jahre 1984 wurden erstmals mehrere Texte von Georg als Sondernummer der Innsbrucker Zeitschrift „LOS“  von Volker Schönwiese, damals Universitätsassistent am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck herausgegeben. Die Resonanz war groß und so wurde dann von Dietmar Raffeiner und Gabriel Gründer 1987 im Eigenverlag das erste Buch „strammgefegt“ mit Geschichten, Märchen und Bildern von Georg herausgegeben. Ab 1990 veröffentlichte der Haymon-Verlag dann mehrere Bücher. Diese Texte wurden zu einem Geheimtipp für bestimmte Kreise. Georg und Dietmar Raffeiner wurden zu Lesungen und Ausstellungen eingeladen. Es gab eine Zeit, da hätte Georg jede Woche eine Lesung machen können, meint s29sp4 Georg Paulmichl BcherDietmar. Georg genoss den Auftritt vor einem unbekannten Publikum. Er las selber die Texte und verblüffte mit seinen Antworten so manchen Fragesteller nach der Lesung. „In der Werkstatt bin ich ein Dichter. Dichter sein ist ein feiner Beruf“, das schrieb er schon sehr früh über sich selbst. Nachdem Georg mit seinen Texten erste Erfolge hatte und bei Lesungen auftrat, fingen auch andere in der Werkstätte an zu schreiben. Aus der Behindertenwerkstatt wurde für kurze Zeit eine Dichterwerkstätte, zumindest beinahe. Die Betreuer der Werkstätte in Prad gingen mit den Behinderten auf verschiedene Märkte, um dort ihre Arbeiten zu verkaufen, sie spielten Theater und förderten die Kreativität. Dieser Freiraum ermöglichte es, dass Georg zu einem Dichter wurde. Und er hat unter der Anleitung von Dietmar Raffeiner auch fantastische Bilder gemalt. Das Malen ist heute noch ein Schwerpunkt in der Werkstätte. Über die Landesgrenze hinaus bekannt ist Georg Paulmichl aber vor allem durch seine Texte. Er hat ein tiefes Gefühl für Sprache, er beobachtet sehr aufmerksam sein Umfeld und zieht seine eigenen Schlüsse. Diese bestehen in einem Wortwitz, neuen Wortschöpfungen und in Gedankenverknüpfungen, über die man lachen und staunen kann. Seit seine Parkinsonerkrankung voll ausgebrochen ist, schreibt und malt er nicht mehr. Aber seine Texte werden weiterhin gelesen und seine Fangemeinde wächst immer weiter, im Ausland noch viel stärker als im Inland.

Heinrich Zoderer

Der Mensch

Der Mensch entstammt der Wiege.
Zwischendurch lebt der Mensch in der Arbeit.
Wenn das Menschengeschlecht nicht arbeitet, kippt es in die Abgründe.
Arbeit hält die Sinne steif.
Der Mensch braucht Wasser, Flut, Feuer, Licht und Finanzspritzen.
Der Mensch behaust überall, wo er hinkommt, das Erdreich.
Auf der Welt hat er seinen Ansitz.
Im Beichtstuhl tilgt der Mensch den Sündenfall.
Die Feuerwehr schützt die Leute vor der Brandursache.
Der Mensch futtert den Fresssack voll.
Eine wichtige Menschenerfindung ist das Erdbeben.
In der Not trinkt der Mensch aus dem Strohhalm.
Mit der Bahre sagt der Mensch dem Ableben adieu.
Nach dem Sterben kommt der Tod.
(aus: Der Georg, Seite 8)

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