Montag, 20 Juli 2015 12:00

Als Menschen in Aktion treten

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s6 hauser afganiSeit über zwanzig Jahren setzt sich Monika Hauser für die Rechte von Frauen in Kriegsgebieten ein und engagiert sich für Überlebende von sexualisierter Gewalt – vor Ort und in Europa. Am kommenden Montag spricht sie im Rahmen der ersten Südtiroler Summer School auf Schloss Velthurns über ihre Arbeit, über Solidarität, politische Verantwortung und die notwendige Selbstermächtigung der Zivilgesellschaft.

Frau Hauser, Sie wurden 2011 vom Magazin Reader’s Digest zur Europäerin des Jahres gewählt. In der Begründung hieß es, Sie seien eine „Persönlichkeit, die am besten die Traditionen und Werte Europas verkörpert.“ Was sind für Sie europäische Werte?


Monika Hauser: Die Anerkennung und Respektierung der Menschenrechte sind für mich das höchste Gut. Toleranz den anderen gegenüber, die mich auch als Andere erleben; die Vielfältigkeit von Identitäten und Lebensentwürfen zu akzeptieren, betrachte ich als persönlichen Reichtum. Aber auch ein europäisches, kollektives Geschichtsbewusstsein, das uns immer wieder an die langfristig wirkenden Zerstörungen durch europäischen Kolonialismus, Unterdrückung und Kriege erinnert, ist wichtig. Damit einher geht das Übernehmen von Verantwortung für Missstände in dieser einen Welt.

Würden Sie sagen, dass die EU-Flüchtlingspolitik nach diesen Werten handelt?
Nein! Die EU handelt verantwortungslos, inhuman, entwürdigend und erneut traumatisierend. Die von der EU beauftragte Grenzschutzagentur Frontex soll die EU-Außengrenzen kontrollieren, sie vor Eindringlingen abschotten. Europa gleicht einer Festung. Es ist zynisch, wenn einige Flüchtlinge dennoch z.B. nach Lampedusa gelassen werden, damit dramatische TV-Bilder in die Welt gelangen, um bei der Bevölkerung Ressentiments zu schüren. Die meisten Flüchtlinge stammen aus Bürgerkriegsregionen und haben Verletzungen und Traumatisierungen erlitten. Sie brauchen eine nachhaltige und kostenlose medizinische und psychosoziale Versorgung. Stattdessen erleben sie inhumane Lebensbedingungen durch die noch geltende Residenzpflicht, durch Wohnortauflagen, eine schlechte medizinische Betreuung, fehlende Arbeitserlaubnis, temporäre Aufenthaltsgenehmigungen und die ständige Angst vor Abschiebung.

Warum verhält sich die EU so unmenschlich? Was vermuten Sie dahinter?
Die Interessen der EU sind klar auf eine neoliberale Wirtschaftspolitik ausgerichtet, nicht auf die Achtung der Menschenrechte. Die derzeitige EU-Flüchtlingspolitik ist diesen neoliberalen Interessen untergeordnet. Außerdem sind viele Ereignisse im öffentlichen Geschichtsbewusstsein in Vergessenheit geraten: Flucht, Vertreibung und Hunger infolge der Weltkriege haben Europas Identität stark geprägt. Das allein müsste uns daran erinnern, wie wichtig gegenseitige Hilfe ist. Doch die meisten Staaten der EU begegnen den verzweifelten Menschen mit Arroganz und Ignoranz. Dabei hat Europa aufgrund seiner gewinn- und wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik die Flüchtlingskatastrophe mit zu verantworten, indem es Kriege und Ausbeutung forciert.

Sie sind mit Ihrer Frauenhilfsorganisation medica mondiale seit 1993 weltweit in Kriegsgebieten tätig: Kongo, Afghanistan, Kosovo - um nur einige zu nennen. Wie ist die Lage von Frauen auf der Flucht?
Mindestens 50 Prozent aller Flüchtlinge weltweit sind Frauen und Mädchen. Frauen fliehen – ähnlich wie Männer - vor Unterdrückung und Verfolgung aus politischen und religiösen Gründen. Aber auch frauenspezifische Gründe wie Witwenverbrennungen, genitale Verstümmelungen oder Vergewaltigungen zwingen sie zur Flucht. Doch viele werden auf der Flucht als Zwangsprosituierte verschleppt, misshandelt und getötet. Sollten sie ihr Zielland überhaupt jemals erreichen, sind sie meist noch traumatisierter als vorher und finden sich nicht selten mit ausbeuterischen Lebensbedingungen konfrontiert. Die Politik muss erkennen, dass Frauen auf der Flucht besser geschützt werden müssen bzw. nach ihrer Ankunft besonderer Hilfe bedürfen.

Wie ist die Lage von Frauen, die es bis in eines der EU-Flüchtlingscamps oder Asylheime geschafft haben?
Dazu gibt es leider keine verifizierten Daten. Ich kenne nur die kleine Organisation „Women in Exile“ mit Sitz in Potsdam, die von ehemaligen Flüchtlingsfrauen gegründet wurde. Der Fokus ihrer Arbeit liegt darauf, auf die prekären Zustände in Flüchtlingslagern in Deutschland hinzuweisen, insbesondere auf sexualisierte Gewalt gegen Frauen. Vor Kurzem sind Übergriffe in NRW und Bayern bekannt geworden, wo privates Wachpersonal Flüchtlinge psychisch und physisch misshandelt hat. Nachdem diese Fälle publik wurden, hat die Regierung zwar eine schnelle Aufklärung und Konsequenzen für die Täter angekündigt. Ob sich wirklich etwas verbessert hat, wissen wir nicht. Hier sehe ich die JournalistInnen in der Pflicht, noch einmal nachzuforschen. Denn es gilt, immer wieder darauf aufmerksam zu machen: häusliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen ist in deutschen Flüchtlingslagern – und nicht nur dort – an der Tagesordnung. Die Politik muss das Thema deshalb prioritär behandeln.

Wie könnte hier eine Besserung erzielt werden?
Wir müssen die Wohnsituation so gestalten, dass Frauen vor solchen Taten geschützt werden, z. B. dadurch, dass sie die Sanitäranlagen und Zimmer abschließen können. Außerdem ist es unverantwortlich, alleinstehende Männer und Frauen gemeinsam unterzubringen. Ich finde es beschämend, dass wir mit all unserem Wissen über sexualisierte Gewalt gegen Frauen nicht mehr Vorsorge treffen. Wir setzen uns deshalb dafür ein, dass Flüchtlingsleitungen auch mit Frauen besetzt werden, um Frauenrealitäten angemessen zu begegnen.  

Gibt es spezielle Schutzmaßnahmen, die für Frauen und Kinder gelten? Werden diese eingehalten? Wer kontrolliert diese Einhaltung?
Wir wissen, dass es massive Verstöße gegen die geltenden Flüchtlingskonventionen gibt. Leider werden diese nur selten bis gar nicht kontrolliert und schaffen es kaum in die Medien und damit in unser Blickfeld. Das Militär, das in Krisengebieten für Sicherheit und Frieden sorgen soll, ist oft selbst an Menschenrechtsverletzungen beteiligt. In zu vielen Fällen haben sogenannte „Friedens“soldaten selbst sexualisierte Gewalt gegen Frauen ausgeübt, im Wissen, dass sie dafür nicht belangt werden können. Deshalb fordern wir, dass Männer gezielt lernen müssen, mit ihrer Maskulinität umzugehen, bevor sie in ein Kriegsgebiet gehen, genauso, wie sie lernen müssen, mit ihrer Schusswaffe richtig umzugehen.

Sind Sie mit medica mondiale direkt bzw. indirekt an den EU-Außengrenzen tätig?
Nein, nicht direkt, aber wir arbeiten derzeit verstärkt an den Grenzen des Syrienkrieges in der Türkei und im Irak. Seit Ende 2014 fördern wir die  türkische Frauenrechtsorganisation „The Association of Legal Aid Against Sexual Violence”. Ihre Mitarbeiterinnen unterstützen syrische Frauen in türkischen Flüchtlingslagern: Sie sprechen mit Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, und dokumentieren die Fälle, bieten  Rechtsberatungen an und geben Seminare, in denen sie über die Rechte von Flüchtlingen in der Türkei informieren. Vor allem jesidische Frauen erzählen von massiver Diskriminierung, Zwangsprostitution sowie Versklavung innerhalb türkischer Flüchtlingslager. Nicht selten bringen sich die Frauen um. Skandalöserweise dulden türkische Flüchtlingscamps keine ausländischen Hilfsorganisationen und NGOs vor Ort, weshalb wir auf Lobby-Arbeit angewiesen sind, um auf die prekäre Lage der Frauen dort aufmerksam zu machen. Ab August 2015 engagieren wir uns außerdem im Nordirak in der Provinz Dohuk. Hier werden wir bestehende Angebote für Frauen und Mädchen, die sexualisierte und andere Formen geschlechtsspezifischer Gewalt erlebt haben, ausbauen und verbessern: durch die Qualifizierung von Gesundheitspersonal in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium, das Erstellen eines Trainingsmanuals und die Unterstützung einer lokalen Frauenrechtsorganisation beim Aufbau eines Frauenzentrums.
 
Sie haben am 19. Juli auf der ersten Südtiroler Summer School einen Vortrag gehalten. Worüber haben Sie gesprochen?
Ich habe in meinem Vortrag die Arbeit von medica mondiale vorgestellt. Dabei ging es um Solidarität, politische Verantwortung, die Zusammenhänge und Ursachen von sexualisierter Kriegsgewalt, um internationale „Friedens“einsätze, Maskulinität und Militarisierung von Hilfe, um den fehlenden politischen Willen der Internationalen Gemeinschaft und frauenspezifische Fluchtgründe. Außerdem sprach ich über die Selbstermächtigung der Zivilgesellschaft, ohne die es medica mondiale nicht geben würde und die heute angesichts der politischen Verhältnisse wichtiger ist denn je.

Die einwöchige Kreativwerkstatt widmet sich dem Thema „Flucht und Zuflucht”. Welche Rolle spielen Kunst, Kultur und Aktivismus für Sie, um auf Missstände hinzuweisen?
Kunst hat für mich eine politische Verantwortung und kann mit ihrer Bandbreite an kreativen Möglichkeiten sehr zur Bewusstseinsarbeit beitragen. Sie kann provozieren und dabei die Augen öffnen. Kunst vermag es, die Menschen zu berühren, und aus Berührung erwächst Empörung. Empörung lässt die Menschen aufhorchen und handeln. Das kann eine nackte Zahl sein oder das Foto von der Sandale eines toten Flüchtlings am Strand von Lampedusa, das können gesprochene oder geschriebene Worte sein. Mir ist es wichtig, dass die Menschen sich empören, weil sie dann als Menschen in Aktion treten.

Was fordern Sie seitens der Politik in Bezug auf die anhaltende Flüchtlingsproblematik?
Die Verantwortung und die Last müssen auf alle europäischen Länder verteilt werden, gemessen an ihrer Wirtschaftskraft. Deshalb plädiere ich für eine Quote, wie sie derzeit im EU-Parlament diskutiert wird. Gerade Griechenland, Italien und Spanien sind aufgrund ihrer geografischen Lage und der Dublin II-Verordnung gezwungen, einer großen Zahl von Flüchtlingen Asyl zu gewähren, während sich andere, wirtschaftlich stärkere Länder ihrer Verantwortung entziehen. Insbesondere mit Blick auf die derzeitige wirtschaftliche Situation in Griechenland und die gleichzeitige Solidarität der Griechen im Umgang mit Flüchtlingen – die hier übrigens auch für europäische Werte steht – ist die Haltung der EU und v. a. der deutschen Bundesregierung zynisch zu nennen.
Was wir brauchen, ist eine klare, einheitliche und faire Zuwanderungspolitik, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Wir brauchen Vernunft und Solidarität. Denn machen wir uns nichts vor: Demografisch gesehen, braucht Europa Zuwanderung.

Das Interview führte Martin Santner, Chefredakteur von 39NULL Magazin für Gesellschaft und Kultur,
www.39null.com

INFO
Die Frauenrechtsorganisation medica mondiale e.V. wurde 1993 von Monika Hauser gegründet. Sie unterstützt weltweit Hilfsprojekte für Frauen und Mädchen, die von sexualisierter Kriegsgewalt betroffen sind. Darüber hinaus leistet die Organisation politische Aufklärungsarbeit über die Lage von Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten u.a. in Bosnien und Herzegowina, Liberia, Afghanistan, Kosovo, Ruanda, Uganda, Burundi, DR Kongo, Kroatien, Albanien und Serbien.  Die Hauptgeschäftsstelle des gemeinnützigen Vereins ist in Köln.
Weitere Details zum Engagement von medica mondiale finden Sie auf der offiziellen Internetseite:
www.medicamondiale.org

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