Nationalpark Stilfserjoch - Die Wiederansiedlung des Bartgeiers in den Alpen - Eine Zusammenfassung über das gesamte Projekt 1986-2023

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Adulter Bartgeier Foto: Alberto Bontacchio Adulter Bartgeier Foto: Alberto Bontacchio

Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Gallus, 16. Oktober 2023

In der Ausgabe dieser Zeitung vom 17. November 2022 habe ich das letzte Mal über den Bartgeier geschrieben. Heute möchte ich eine Gesamtübersicht zum Projekt der Wiederansiedlung dieser Vogelart in den Alpen seit dem Beginn im Jahr 1986 versuchen. Ich beginne mit einer statistischen Zusammenfassung.

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Historisch eine von vier Geierarten

Der Bartgeier (Gypaetus barbatus) war, historisch betrachtet, eine von vier Geierarten in den Alpen. Daneben gab es den Gänsegeier (Gyps fulvus), den Mönchsgeier (Aegypius monachus) und den Schmutzgeier
(Neophron percnopterus). Namensgebend für den Bartgeier sind die steifen Federborsten am Schnabelansatz, welche über den Unterschnabel wie ein kleiner Kinnbart vorstehen. Nach dem südamerikanischen Kondor ist der Bartgeier mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,90 Metern der zweitgrößte flugfähige Vogel. Sein Trivialname „Lämmergeier“ hat dem Bartgeier in den Alpen am Anfang des 20. Jahrhunderts den Kragen gekostet: Als vermeintlicher Lämmerdieb wurde er gnadenlos verfolgt bis zu seiner Ausrottung im Jahr 1930. Dabei ist der Bartgeier ein reiner Aasfresser, der mit seiner aggressiven Magensäure die Kalksubstanz von Knochen auflösen kann und sich so die Skelette von Tottieren mit deren Knochenmark als spezielle Nahrungsnische ohne Konkurrenz durch andere Tiere erschlossen hat. Bartgeier werden erst im 5. bis 7. Lebensjahr geschlechtsreif und fortpflanzungsfähig.
Die Wiederansiedlung dieser Vogelart in den Alpen hat 1986 begonnen und war nur möglich, weil in den Zoos noch Gründertiere vorhanden waren.

Die Brutsaison 2023
Das internationale Bartgeiermonitoring IBM hat im heurigen Jahr in den Alpen 84 territoriale Bartgeierpaare erfasst, zusätzlich zwei auf Korsika und eines im Französischen Zentralmassiv. 59 von diesen Paaren haben erfolgreich gebrütet (Bruterfolg 0,73, d.h. 3 von 4 Bruten waren 2023 erfolgreich). Bei 21 Paaren ist die Brut misslungen, 7 Paare haben nicht gebrütet.

Die Südtiroler Bartgeier sind Vinschger
Von den oben erwähnten bisher erfassten und monitorierten 84 Bartgeier-Paaren der Alpen haben 18 Paare im italienischen Teil des Alpenbogens ein Territorium bezogen, davon 13 in den Zentralalpen und 5 in den West- und Südwestalpen.
Von den 13 Paaren in den italienischen Zentralalpen brüten 5 Paare in Südtirol, bisher allesamt im Vinschgau. Alle 5 Paare (Reschen, Planeil/Matsch, Trafoital, Martelltal, Pfossental) haben in der abgelaufenen Brutsaison 2023 ihre Junggeier erfolgreich bis zu deren Ausfliegen aufgezogen.

Wo halten sich die im Martelltal freigelassenen Bartgeier auf?
Der Nationalpark Stilfserjoch ist Projektpartner im Projekt zur Wiederansiedlung der Bartgeier in den Alpen und hat bekanntlich in den Jahren zwischen 2000 und 2008 in fünf Freilassungsaktionen insgesamt 11 Junggeier aus Zoozuchten kurz vor ihrem Flüggewerden in eine künstliche Horstnische im Schludertal hinter Stallwies in Martell freigesetzt. Seither bin ich öfters gefragt worden, was man von diesen freigelassenen Bartgeiern weiß.
s49 bartZur Erinnerung fasse ich die Freilassungsjahre, Namen, Geschlecht, Schlupfdatum und Zuchtort der 11 „Marteller“ Geier zusammen:
Aus gesicherten Sichtungen, aber auch aus der Aufschlüsselung der genetischen Codes aus Federn, welche unter Horsten gefunden worden sind, kann man sieben der 11 im Martelltal freigelassenen Vögel als derzeit sicher noch lebend identifizieren und verschiedenen Brutpaaren zuordnen. Aus den Jahres- und Trimester-Berichten des Internationalen Bartgeier-Monitorings IBM habe ich für Interessierte folgende Daten zusammengeschrieben:
Retia, das Weibchen aus dem Jahr 2000 ist inzwischen 23 Jahre alt. Von 2008 bis 2011 konnte es als Paarpartner des Männchens Livigno identifiziert werden und hat am Ofenpass in den drei Jahren 2008, 2009 und 2011 je einen Jungvogel zum Ausfliegen gebracht. Dann hat es hat einen Partnerwechsel gegeben: Seit 2017 ist Retia Brutpartnerin des Männchens Ingenius vom Paar Buffalora (CH). Beide haben 2017 und 2021 ein Junges erfolgreich aufgezogen.
Stift, das inzwischen 21-jährige Weibchen aus dem Marteller Freilassungsjahr 2002, ist Brutpartnerin von Tell im Bormianer Brauliotal. Die beiden Vögel haben zwischen den Jahren 2011 und 2021 sechs Junge bis zum Ausfliegen aufgezogen.
Martell, Weibchen Jahrgang 2002, ist Partnerin von Zebru. Beide bilden das Paar Tantermozza bei Zernez im Unterengadin und haben zwischen 2010 und 2016 6 Junge aufgezogen. Seither scheint der Bartgeier Martell unter den Brutpaaren nicht mehr auf.
113B3 SW 2019 Luca CasaleOrtler, Weibchen aus dem Jahr 2004, ist seit 2014 Partnerin von Livigno im Paar Ofenpass. In den zehn Jahren zwischen 2014 und 2023 haben die beiden Bartgeier insgesamt 8 Jungvögel bis zum Ausfliegen aufgebracht. Von 2008 bis 2011 war das Männchen Livigno Partner des „Marteller“ Weichens Retia.
Zufall, das Weibchen aus der Marteller Freilassung im Jahr 2006, ist eine Auswandererin. Als Partnerin des Männchens GT 099 bilden sie das französische Paar Bargis Bis und hat zwischen 2018 und 2023 4 Junge aufgezogen.
Temperatio, Weibchen Jahrgang 2006 aus der Zuchtstation Haringsee bei Wien und gleichen Jahres im Marteller Schludertalfreigelassen, ist hingegen heimatverbunden: Mit einem nicht näher identifizierten Partner aus einer Wildgeburt bildet es das Marteller Paar Zufritt und brütet seit 2015 erfolgreich. In den neun Jahren von 2015 bis 2023 sind ebenso viele Jungvögel ausgeflogen.
Haristraufu, Männchen aus der Marteller Freilassung im Jahr 2008, ist Paarpartner des Planeiler Paares. 2023 ist das Junge des Paares ausgeflogen.
Von Interreg (Freilassung Martell im Jahr 2000), Culan (Marteller Freilassung 2004) und Voltoi (Freilassung Martell im Jahr 2006) gibt es keine Beobachtungen unter den Brutpaaren oder gemeldete, in den Datenbanken erfasste Sichtungen.
Sicher tot ist Ikarus, das Männchen, welches im Jahr 2008 im Martell freigelassen worden war. Es war mit einem Satellitensender bestückt, ist 2008 nach einem Meter Neuschneefall im Rabbital auf einem Hausdach niedergegangen, mit Lähmungen geborgen und anschließend in der Zuchtstation Haringsee Wien bei Prof. Hanns Frey gepflegt worden. Im Juni 2009 wurde der wieder flugfähig gewordene Vogel, mit neuem Satellitensender bestückt, am Kleinboden in Trafoi ein zweites Mal freigelassen, aber im Herbst desselben Jahres in der Innerschweiz erneut am Boden, noch lebend, geborgen. Trotz fachmännischer Pflege im Tierpark Goldau ist Ikarus seiner Bleivergiftung mit astronomisch hohen 59 Milligramm Blei pro Kilogramm Körpergewicht erlegen. Das Blei war schon in den Knochenbälckchen eingebaut. Das toxische Schwermetall hatte der Vogel wohl über Eingeweide von Tottieren oder Aufbrüchen von Jagdbeuten im Gelände aufgenommen.

Fazit: Von den 11 im Martelltal zwischen den Jahren 2000-2008 freigelassenen Bartgeiern gibt es von sieben Vögeln aktuelle Lebenszeichen in Form von Bruterfolgen. Und: Wenn die Lebensraumbedingungen stimmen, werden Bartgeier (sehr) alt.

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