Haselnüsse auf Rimpf

geschrieben von Ausgabe 6-19

Rimpf 80er Jahre hofstelleDie Nächstenliebe und ganz allgemein das soziale Verhalten wächst und gedeiht ganz besonders in Großfamilien. Das wird wiederholt behauptet und das vermutet auch mein Sohn Ulrich, der als Einzelkind aufgewachsen ist. Der Ulrich blieb also allein, ohne familiäres Geschwistererlebnis, wie dies in Großfamilien stattfindet. Desto aufmerksamer verfolgte er Familiengeschichten seiner vier Onkel und der zwei Tanten, die ich ihm erzählte.


Anna war in der Reihe der sieben Geschwister die zweitjüngste und wurde als kleines Mädchen immer wieder den älteren Brüdern anvertraut. Die hatten aber ganz andere Pläne und wollten keineswegs  Kindermädchen spielen. Aber jeder musste mithelfen, die Eltern waren beide berufstätig. Die Sechsjährige folgte also den „Buben“ in den Wald, wo sie einfach an einen Baum gebunden wurde, ganz nach Indianerart, und erst wieder befreit wurde, nachdem die „Männer“ ihre Wichtigkeiten erledigt hatten.
P1000092Zu den „Wichtigkeiten“ gehörte das Durchforsten des Waldes, wobei diese drei älteren Brüder - neun, zehn und zwölfjährig- auf ein verstecktes Jagdgewehr stießen, das ihre Fantasie heftig beschäftigte. Wer hatte dies wohl hier versteckt und zu welchem Zwecke? Sollte damit etwa der Krieg weitergeführt werden, der eben zu Ende gegangen war? Überall gab es Zeichen und Botschaften, immer wieder kamen junge Männer zurück von der amerikanischen, französischen oder italienischen Gefangenschaft, gesund oder als Invaliden.
Mein Nachbar Heinrich Unterholzer hat im Krieg das Augenlicht verloren. Er wanderte monatelang durch die Gassen von Schlanders, geführt von einem Blindenhund. Anfangs wurde er liebevoll betreut, allmählich erlosch das Interesse und der Heinrich war nur mehr ein armer Invalide. Unwillig und schimpfend warnte er uns vor dem Krieg. Wir Kinder haben wenig verstanden, für uns war das eben so. Keine weiteren Fragen das Kriegsgeschehen betreffend, keine Fragen nach Karriere, nach Auszeichnungen, nach Abenteuern, nach Tapferkeit, Heldentum ... Erwähnt wurde vielleicht noch, dass der Niederfriniger, der Nachbar, in den letzen Kriegswochen eingezogen wurde, aber aus Jugoslawien nie mehr zurückgekehrt ist.
Also das Jagdgewehr. Es wurde wie eine kostbare Kriegsbeute behandelt. Die drei Brüder durften abwechselnd je für einen Tag die Beute herumtragen. Das ging eine zeitlang so weiter, bis der Hechenberger davon erfahren hat. Der gestrenge Herr war eine Autorität, ein „Studierter“, der allerdings im italienisch gewordenen Südtirol keine Anstellung erhalten hatte. Und so war er auf Trinkgelder für kleine Dienste im Steueramt angewiesen, weil nur er - nicht aber die italienischen Nachfolger im Amt - die in gotischer Schrift geschriebenen Akten lesen und entziffern konnte. Dieser Georg Hechenberger (1872-1945) sei hier genannt, weil sein Schicksal typisch war für viele noch unter Österreich Geborene, die nicht rechtzeitig um die italienische Staatsbürgerschaft angesucht hatten. Sie mussten ein kümmerliches Randdasein führen. Es waren „ungelöste“ Fälle, entstanden durch Willkür oder wegen mangelnder Loyalität zu Italien. Sie bekamen keine Arbeit. Die Mitbürger halfen und litten mit ihnen; diese offene Wunde schmerzte noch lange, wirkt bis in die Gegenwart.
Also das Jagdgewehr, es landete bei einem Schlanderser Jäger, der als Finderlohn ein paar „Zuckerlen“ versprach, dieses Versprechen aber nie eingelöst hat.
Um einen anderen Finderlohn ging es bei der „verlorenen“ Schwester Midl. Die ganze Familie war damit beschäftigt, auf dem weiten Gelände des Rimpfhofes Haselnüsse zu „klauben“. Das wurde sehr eifrig und erfolgreich bis in die Abendstunden betrieben. Als zum Aufbruch gerufen wurde, fehlte die Midl. Nur ihre fleißig gesammelten Haselnüsse waren verlockend allgegenwärtig. Was nun, wenn die Schwester nicht mehr wiederkommt, wem gehören dann die Haselnüsse? Lautes Rufen brachte keinen Erfolg; die Midl war unauffindbar.
Und schon begann sich die Geschwisterliebe in Habsucht zu verwandeln, wie der Vater mir später lachend erzählte. Er erinnerte sich noch genau an den Eifer, mit dem das „Erbrecht“ je nach Alter der Brüder eingefordert wurde.
Die Schwester ist dann doch noch gekommen, die Haselnüsse wanderten in die hungrigen Mägen der „Besitzlosen“, die hier auf dem Rimpfhof noch allerhand anstellen sollten. Wem gehörte das Gelände, die Höfegruppe? Irgendwie war die Hofanlage zum Allgemeingut geworden, wo jeder anschaffen wollte. In Wirklichkeit waren aber diese Höfe Besitz der Gemeinde Schlanders, Fraktion Kortsch. Der arbeitskreis Vinschgau, die Kulturzeitschrift ARUNDA, Künstler und Förderer aus der ganzen Umgebung, aus Kortsch, Laas, Mals, Goldrain, Latsch und Prad haben sich bereit erklärt, für die Instandsetzung des verwahrlosten Hofes zu spenden. Tatsächlich konnte durch den Verkauf einer Kunstmappe mit zum Teil wertvollen Drucken und Originalen ein finanzieller Grundstein zur Erneuerung dieser Höfegruppe gelegt werden. Die Besitzverhältnisse des Hofes waren nämlich, wie bei vielen anderen Bergerhöfen, durch die Option arg durcheinander geraten. Die Option der Jahre 1939-1943, die verhängnisvolle Aussiedlungspolitik der beiden Diktatoren Hitler und Mussolini, wäre beinahe zum Verhängnis des Landes Südtirol und seiner Bewohner geworden. Der Kriegsverlauf, vor allem die Niederlage der Wehrmacht vor Stalingrad, änderte Mussolinis Paktpolitik mit Hitler und beendete zugleich die bereits eingeleitete Umsiedlung der Südtiroler gemäß den Abmachungen der Option. Plötzlich befand sich das Land in einem wirtschaftlichen und auch politischen Vakuum.  
Neue Erwerbsquellen mussten gefunden werden. Mit dem Urlaub auf dem Bauernhof entstehen neue wirtschaftliche Ansätze und die Besinnung auf die Kultur der Berghöfe. Überall musste neu angefangen werden. Sollte man das Gelände aufforsten oder als Weidegrund nutzen? Auf den brachliegenden Feldern wurde anfangs versucht, alte Getreidesorten und Heilkräuter anzubauen. Schwierigkeiten bereitete aber seit alters her die Wasserknappheit. Der Rimpfhof wurde mit Hilfe der Bauern und besonders der Fraktion Kortsch in einen Kulturhof verwandelt, wo Künstlern ein günstiger Aufenthalt geboten wird. Seitdem, also seit fast 30 Jahren, wird hier gemalt, gehämmert, gesungen, musiziert, gedichtet und meditiert.
Hans Wielander

 

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