„Vielleicht hätte er sich doch noch für München entschieden“, sagte die Mutter oft zu ihren Töchtern, weil er dort eine Stelle an der Schmiedeschule angeboten bekommen hatte. Aber der Krieg ließ ihm keine Bedenkzeit. Und dann sagte Sigi: „Ach Mutter, wer weiß, vielleicht wären wir in München im Bombenhagel alle umgekommen“. Sie war die Stärkste in der Familie. Schon früh kümmerte sie sich um die Schwester, die an der „englischen Krankheit“ litt und um die kränkliche Mutter, die trotz allem sehr streng war. Weil sie das musste. Um den Vater zu ersetzen. Im Großen und Ganzen verbrachte Sigi aber eine schöne Kindheit. Auf dem Lande. Wenn das Essen reichte. „Für Brot musste ich oft zwei Stunden anstehen“, erzählt sie und weiter: „Uns gehörte die Dorfschmiede. Alle unsere Vorfahren waren Schmiedemeister. Ein Meister und ein Geselle waren stets bei uns angestellt. Die Schmiede war mein Spielplatz. Hammer, Amboss und Blasebalg meine Spielsachen. Auch wenn man von außen meinte, man käme in die Hölle. Nur am Sonntag musste ich Organza Kleidchen tragen, die an mir wie ein Fremdkörper wirkten. Und die Tanten mussten flicken und nähen, wenn das Kleid am Abend wieder zerrissen war. Es war immer mein größter Wunsch, Automechanikerin zu werden. Aber zu dieser Zeit in Deutschland war das ja überhaupt nicht möglich“. „Lern du erst mal das Kochen“, sagte dann die Mutter. So kam Sigi als Vierzehnjährige ins Internat. Zu den Ordensschwestern. In die Hauswirtschaftsschule. Bis zu siebzig Mädchen waren dort untergebracht. Weiter ging es in die höhere Wirtschaftsschule. Ins nächste Internat. Bis Sigi, als ausgelernte Wirtschaftsleiterin, einundzwanzigjährig, heiratete und zwei Kindern das Leben schenkte. Thore und Christina. Doch die Ehe hielt nicht. Und um von Scheidung nichts mehr hören zu müssen, zog Sigi mit ihren beiden Kindern nach Konstanz, am Bodensee. Dort war sie alleinerziehend, bis sie ihren Mann, Alex Ludwig, kennenlernte, und die Liebe ihres Lebens fand. „Es waren einfach die gemeinsamen Interessen, das Wandern und die Jagd, die Berge und der Vinschgau, die uns verbanden. Wir haben uns ja auch im Alpenverein in Konstanz kennengelernt. Aber unsere Hochzeitsreise, die machten wir in die Sahara. Zu den Tuareg. Das war alles vor dreiunddreißig Jahren und sehr außergewöhnlich und abenteuerlich“, erzählt Frau Ludwig.
Alex Ludwig war Beamter im psychiatrischen Landeskrankenhaus von Konstanz, das über 1000 Patienten beherbergte. Wie ein Dorf war das Krankenhaus ausgestattet mit eigenem Gutshof, Gärtnerei, physiotherapeutischen Anlagen, einer Geriatrie, sowie den Dienstwohnungen für das Personal, von denen auch die Ludwigs eine bewohnten. Ihr Mann hatte bereits damals das Haus in Goldrain gekauft, wo sie dann hin und her pendelten. Von Konstanz nach Goldrain und zurück. Und jedes Mal fiel ihnen der Abschied schwerer, bis sie sich entschlossen, nach der Pensionierung von Herrn Ludwig, Konstanz aufzugeben. Beiden fiel die Entscheidung leicht. Die Kinder waren bereits versorgt. Mittlerweile kommen schon die Urenkel bei Frau Ludwig zu Besuch. Dort in der Klinik in Konstanz konnte Sigi auch mit einem noch ungeklärten Teil aus ihrer Kindheit abschließen. Nämlich dem Tod ihres Vaters in Stalingrad. Ein Arzt namens Stuhlmann, der wie viele andere gleich nach dem Krieg in der Konstanzer Klinik untergebracht wurde, kannte ihren Vater und wusste zu berichten, dass er durch einen Kopfschuss fiel. „Ein gnädiger Tod“, wie er meinte. „Und nichts war Zufall, alles musste so kommen“, erzählt Frau Ludwig, „die Begegnung mit meinem Mann Alex, die dann zur Begegnung mit Doktor Stuhlmann führte. Die Tatsache, dass mein Mann als achtzehnjähriger Soldat im Zug mit dem Kameraden Hans Baldauf aus Graun zusammentraf, woraus sich eine Freundschaft entwickelte, die ihn schon damals in den Vinschgau führte. Und dass wir beide, schon in jungen Jahren, zur selben Zeit, eine Arbeitsstelle in Süd-West Afrika angeboten bekommen haben, die wir beide fast angenommen hätten. Dann hätten wir uns eben dort getroffen. So oder so. Hätten wir zueinander gefunden.“ Nun kamen schöne Jahre auf die Ludwigs zu. Die Berge und das Wandern standen im Vordergrund. Endlich mussten sie nicht mehr Koffer packen. Achtzehn schöne Jahre. In Goldrain.
Dann verstarb Alex Ludwig, nach längerer Krankheit. Sigi verkaufte das Haus und ist im Oktober letzten Jahres in eine schöne, sonnige Parterrewohnung in Morter eingezogen. Eine Familie aus Vetzan, zu der sie ein Verhältnis hat wie zu ihrer eigenen, hält sie auf Trapp, und Besuch aus Deutschland steht immer wieder an. Sie kümmerte sich schon immer um ältere Menschen, die zum Beispiel gefahren werden müssen. Natürlich pflegt sie weiterhin die Leidenschaft zu den Bergen und nimmt sich Zeit für ihr Hobby, das Lesen. Sie hat sich eingerichtet. Im Vinschgau. In ihrer Wahlheimat.