Dienstag, 12 Juli 2011 00:00

Pause für die Turbo-Siedlung

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s6_3696Naturns stellt die Weichen für die Zukunft: der Gemeinderat verabschiedete auf seiner jüngsten Sitzung ein Konzept für die zukünftige Besiedelung des 5.500 Einwohner zählenden Ortes. Die Grundsätze lauten: Lücken schließen und innehalten - Naturns soll nach dem rasanten Wachstum in den letzten 50 Jahren erst einmal verschnaufen.

von Martin Platzgummer

Zeitung Vinschgerwind Bezirk Vinschgau

Zurückversetzt in schon längst überwunden geglaubte  Zeiten fühlten sich wohl einige Naturnser, die am vergangenen Donnerstag im Dorfzentrum und entlang der Hauptstraße unterwegs waren. Stoßstange an Stoßstange reihten sich dort Autos und LKWs aneinander und schlängelten sich im Schritttempo durch das Nadelöhr der  Dorfmitte. Eine Blechlawine, wie man sie in Naturns schon lange nicht mehr gesehen hatte und schon gar nicht mehr gewohnt war.
Grund für die Staus auf der Straße war der gesperrte Umfahrungstunnel, der normalerweise den Durchzugsverkehr von der Gemeinde fern hält. Ein technischer Defekt hatte die Tunnel-Elektronik außer Gefecht gesetzt und der Verkehr musste durch das Dorf umgeleitet werden. Die Folge waren – wenn auch nicht ganz so schlimm wie in Vor-Tunnel-Zeiten – Staus an beiden Dorfeinfahrten.

Der Tunnel: Will man in Naturns ein Bauwerk finden, welches das Gesicht des Dorfes am nachhaltigsten verändert hat, dann kann das fast nur die Umfahrung sein – das haben die Verkehrsprobleme am vergangenen Donnerstag eindrucksvoll in Erinnerung gerufen. Vielleicht ist er sogar das Symbol für die vielen Veränderungen, die man hier in den letzten fünfzig Jahren erfahren hat. Denn um 1960 war der heutige Hauptort des Untervinschgaus noch ein beschauliches Dörfchen mit ein paar Bauernhöfen im Talboden, die Viehwirtschaft, Getreide- und Obstanbau betrieben. Doch dann ging es Schlag auf Schlag. Begünstigt durch die Ansiedlung von größeren Industriebetrieben in den 60er Jahren, wurde aus Naturns ein attraktiver Wohn- und Arbeitsstandort, dessen Einwohnerzahl von knapp 3.000 (1951) auf über 5.500 (2010) anstieg. Die besiedelte Fläche hat sich seither vervierfacht und bis in die 1980er Jahre verbaute man im Schnitt 20.000 Quadratmeter jährlich. Ein „Turbo-Wachstum“, das – wenn auch nicht mehr so rasant – bis heute anhält. Die vielen Projekte der letzten Dekaden, wie die Sport- und Freizeitanlagen, das Schul- und Zivilschutzzentrum, das Altersheim, die Umfahrung, die Dorfgestaltung, aber auch die große Hotellerie, ließen das Dorf auf eine beachtliche Größe anwachsen. Phasen der Entspannung gab es selten. Doch damit soll es nun vorerst vorbei sein.

naturns1Auf der jüngsten Sitzung des Gemeinderates, hat man ein Konzept zur Siedlungsentwicklung verabschiedet, welches das Wachstum des Dorfes klarer regeln soll. „Wir wollen aus Naturns keine Stadt machen, sondern den dörflichen Charakter beibehalten“, erklärt Urbanistik-Referent Zeno Christanell. Das Konzept soll, so der Wunsch der Gemeinde, die Entwicklung von Naturns nachhaltiger und bedarfsorientierter gestalten. Dazu setzte man eine überparteiliche Arbeitsgruppe ein, die mit Unterstützung der beiden Siedlungsexperten Roland Dellagiacoma und Arnold Gapp, Vorgaben und Ziele für die Schwerpunkte Wohnbau, Gewerbezonen, Tourismus, Landschaft und öffentliche Infrastrukturen formulieren sollte.
Dabei kristallisierte sich schnell ein verbindender Grundsatz für jeden der fünf Bereiche heraus: Eindämmen der Zersiedelung. So sollen im Wohnbau Baulücken im Siedlungsbereich geschlossen und neue Wohnzonen nur an bestehende angegliedert werden können. Die festgelegten Siedlungsränder will man bedingungslos respektieren und die Zersiedelung unbebauter Landschaften vermeiden. Zudem soll es von nun an verboten sein, im Rahmen von Raumordnungsverträgen, Kubatur aus den Fraktionen in den Hauptort zu verlegen. Auch ambitionierte Vorgaben, wie zum Beispiel die Bürger zu animieren, sich in gemeinschaftlichen und genossenschaftlichen Wohnmodellen zu organisieren, finden in dem neuen Dokument ihren Platz. Ziel sei es, einheimischen Familien eine Wohnmöglichkeit im Gemeindegebiet bieten zu können, heißt es aus dem Rathaus. Ähnliches gilt für die Gewerbezonen. Nur bestehende Zonen können in Zukunft erweitert werden, eine Vorausweisung soll nicht mehr möglich sein. Neuansiedlungen von Betrieben sind nur mehr nach genauen Kriterien, wie Qualität der Arbeitsplätze und Nachhaltigkeit, möglich. Bei beiden, Wohnbau- und Gewerbezone,  will man keine starken Anreize schaffen, die eine übermäßige Nachfrage von außerhalb begünstigen. „Das soll jetzt aber nicht als Entwicklungs-Stopp missverstanden werden“, betont Zeno Christanell, „denn wenn sich ein Betrieb ansiedeln will, der die Vorgaben erfüllt und hochwertige Arbeitsplätze schafft, dann werden wir alles versuchen, dass er das auch tun kann“. Qualität vor Quantität also - fast umgekehrt, könnte man sagen, verhält es sich im Bereich Tourismus.

Für die künftige Entwicklung des Tourismus verabschiedete man bereits im Frühjahr ein eigenes Konzept. Dieses sieht vor, einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Sterne-Kategorien herzustellen. Da in Vergangenheit die Bettenanzahl, besonders in den billigeren Segmenten, stark rückläufig war. Mit Unterstützungsmaßnahmen für Investitionswillige soll dem entgegen gewirkt werden. Diese können ihren Betrieb nun als Tourismuszone ausweisen lassen und dürfen über geltende urbanistische Bestimmungen hinaus Erweiterungen realisieren. Ein Konzept, das im Gemeinderat nicht unumstritten war.

Strengere Regeln soll es für die Verbauung im landwirtschaftlichen Grün geben. Wie zum Beispiel im Bereich der Vertragsurbanistik und der Hofstellenverlegung. Auch hier heißt die Devise: Verdichten anstelle von Zersiedeln. Bereits 2007 beschloss die Gemeinde einen Landschaftsplan, der Bannzonen zum Schutz der Natur festlegte. Diese Maßnahmen werden im neuen Siedlungsentwicklungsplan noch einmal ausdrücklich betont. Denn auch in Naturns hatte das südtirolweit so beliebte Mittel der Hofstellenverlegung die eine oder andere Stilblüte getrieben. Die öffentlichen Infrastrukturen hingegen bedachte man nicht mit visionären Maßnahmen – sondern wies ihnen vielmehr pragmatische Lösungen zu. So sollen im Kindergarten und in der Mittelschule neue Räume dazukommen, eine Einrichtung für betreutes Wohnen gebaut, sowie weitere Quellfassungen für das Trinkwasser erschlossen werden.

Nachdem die Arbeitsgruppe die Grundsätze gefasst hatte, bestand nun die Aufgabe der beiden Fachleute Roland Dellagiacoma und Arnold Gapp darin, geeignete Grundstücke zu finden, die die Vorgaben erfüllen (siehe Kasten) - allerdings ohne Rechtsverbindlichkeit, die ermittelten Parzellen sollen nur zur Orientierung dienen. „Sonst hätte man gleich eine Bauleitplanüberarbeitung machen können“, erklärt Zeno Christanell: „Dieses Konzept ist ein flexibles urbanistisches Instrument, mit dem wir die Entwicklung von Naturns kontrollieren und bei Bedarf reagieren können, im Gegensatz zum Bauleitplan.“

Landwirtschaft, Standortattraktivität, Lebensqualität, Heimat – in einem dicht besiedelten Land wie Südtirol sind die Erwartungen an den begrenzt zur Verfügung stehenden Raum hoch. Um die zum Teil konkurrierenden Ansprüche wie Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Verkehr und Erholung aufeinander abzustimmen, bedarf es einiges an Fingerspitzengefühl.
In Naturns ist man überzeugt, mit dem Siedlungsentwicklungskonzept die richtigen Grundsätze gefasst zu haben. „Im Moment ist es für uns die geeignetste Lösung“, glaubt Referent Christanell.  Derselben Meinung ist auch Arnold Gapp: „Ein solches Konzept kommt selten vor. Es wäre aber die richtige Vorgangsweise, um die Entwicklung einer Siedlung zu planen und wäre auch ein Modell für andere Gemeinden.“
Ob die Konzepte der Naturnser einmal Früchte tragen werden, ist freilich erst in ein paar Jahren abzusehen. Und erst dann wird sich zeigen, welche Qualität die verordnete Rast für das Dorf hatte und es wirklich ausreichend verschnaufen konnte.

s7_zoneMögliche Wohnbauzonen

Die Arbeitsgruppe bestehend aus Andreas Heidegger, Zeno Christanell, Helmut Müller, Krista Klotz, Barbara Pratzner, Astrid Pichler, Johann Pöll, Valentin Stocker, Johann Unterthurner, Wolfgang Stocker, Stephan Perathoner, Josef Pircher formulierten Grundsätze für die zukünftige Entwicklung von Naturns. Die Experten Roland Dellagiacoma und Arnold Gapp ermittelten daraufhin mögliche Parzellen, welche die Vorgaben erfüllen.


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