Nationalpark Stilfserjoch - Archäologie im Veltlintal - Mittelsteinzeit und Mittelalter

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Ein historisches Foto der Kirche San Giacomo di Fraele und den umliegenden Gehöften vor der Seestauung um 1950. Ein historisches Foto der Kirche San Giacomo di Fraele und den umliegenden Gehöften vor der Seestauung um 1950.

Wolfgang Platter, am Tag der Hlg. Hildegard von Bingen, 17. September 2023

Die Rückmeldungen zu meinen Zeitungsbeiträgen in der Vergangenheit über unsere Nachbarn im Veltlintal zeigen mir, dass ein Interesse der Leserinnen und Leser an Geschichte, Land und Leuten jenseits des Stilfserjoches besteht. Daher greife ich im heutigen Beitrag erneut ein Thema aus dem Veltlintal auf: Im heurigen Sommer haben an zwei Orten in der Bormianer Gegend archäologische Grabungen stattgefunden. Es gibt dazu zwei bisher unveröffentlichte Berichte, die mir von Frau Dr. Loredana Dresti, meiner vormaligen Sekretärin in der Direktion des Nationalparks in Bormio zur Verfügung gestellt worden sind. Das lombardische Amt des Nationalparks war nämlich einer der Projektpartner dieser archäologischen Sondierungen.

Spuren früher Besiedlung
Die Besiedlung des Alpenbogens durch Menschen nach der letzten Eiszeit interessiert. Die Würmeiszeit als die letzte von vier großen Eiszeiten ist mit dem Abschmelzen der Gletscher in den Tallagen zwischen 15.000 und 12.000 Jahren v. Chr. abgeklungen. Und alpenweit versuchen die Archäologen zu rekonstruieren und enträtseln, wann zeitlich die menschliche Besiedlung der eisfrei gewordenen Alpentäler beginnt. Von 10.000 – 8.000 Jahre vor Christus lassen sich Spuren finden. Dabei sind zunächst nur in den wirtlicheren Sommermonaten nomadisierende Jäger und Sammlerinnen in die Zentralalpen vorgedrungen. Nach dieser ersten mesolithischen Jägerphase beginnt eine teilweise auch noch nomadisierende Hirtenphase, bereits mit Zähmung und Haltung von Weidetieren. Und als dritter und letzter Besiedlungsschritt folgt die Sesshaftigkeit von Bauern mit Bestellung von Feldern, Wintervorratshaltung und Errichtung von Wohnsiedlungen. Dabei ist interessant, aber durchaus verständlich, dass die Besiedlung der Alpentäler von oben nach unten und nicht von den Talsohlenböden hinaufwärts erfolgt ist: Siedlungsplätze auf den nacheiszeitlichen Mittelgebirgsterrassen als ausgehobelten Trogschultern der vormaligen Gletscher waren sicherere Siedlungsplätze als die überschwemmungsgefährdeten, sumpfigen und mückenverseuchten Böden in der oft schattigen Talsohle. Auf den Anhöhen oder Kuppen in sonniger Lage mit einer Wasserquelle und an einem erosionssicheren Ort ließ sich leichter leben. Der Siedlungsplatz konnte nach der Entstehung von Grundeigentum mit Mein und Dein auch befestigt und gegen Eindringlinge verteidigt werden. Ganglegg am Schludernser Sonnenberg ist ein Beispiel für einen solchen Siedlungsplatz im Vinschgau der Frühzeit.

Grabung an der Veltiner Alm in der Valle dell´ Alpe
Die Valle dell´Alpe ist ein Hochtal an der orographisch linken Seite des Gaviapasses. Die Straße zum Gaviapass beginnt in Santa Caterina Valfurva und führt nach Pontedilegno in der Valle Camonica. Somit bildet diese Hochalpenstraße einen sommerlichen Übergang von Bormio in der Provinz Sondrio nach Edolo in der Provinz Brescia in Richtung Iseosee.
Im Sommermonat Juli 2023 wurde an der Alm in der Valle dell´Alpe auf einer Meereshöhe von etwa 2.000 Metern eine archäologische Grabung durchgeführt, welche Spuren von mesolithischen Jägern zutage gefördert hat. Die Grabung wurde auf Initiative der Abteilung Archäologie der Region Archeo Gavia 04Lombardei, der Gemeinde Valfurva und des Nationalparks Stilfserjoch vorgenommen. Als Spuren mesolithischer Jäger wurden etwa Silex-Spitzen für Pfeilspitzen oder Messer gefunden. Silex ist behauener Feuerstein, der in der Gegend der Fundstelle nicht vorkommt. Diese Steine als Werkzeug müssen also in einer anderen Gegend erworben worden oder mit seinem Besitzer aus größerer Entfernung hierher gekommen sein. Begehung dieser Übergänge und Tauschhandel in frühen Zeiten nach der Auseisung können abgeleitet werden.

Die alte Jakobskirche am Lago di Fraele
Es gibt nicht nur die im Wasser des Reschensees versenkte Kirche von Graun, sondern auch die versunkene Kirche von San Giacomo di Fraele auf dem Hochplateau von Cancano und Fraele. Diese Hochebene liegt an der orographisch rechten Seite des Brauliotales, welche vom Stilfserjoch nach Bormio verläuft. Von Bormio aus erreicht man die beiden Stauseen über die Serpentinenstraße des Passo delle Scale. Die Kirche von San Giacomo war eine Hospizkirche am Pilgerweg nach Santiago de Compostela mit einigen angeschlossenen Unterkunftshäusern. Als die Staudämme von Cancano und Fraele gebaut worden sind, ist die Kirche 1950 im Wasser des Stausees versunken. Bis 1953 ragte noch der obere Teil des Turmes aus dem Wasser. Der Turm wurde in der Folge – ich meine, geschichtsblind und unsensibel – abgerissen. In den Wassern der beiden Stauseen von Cancano und Fraele verschwunden sind auch die Gehöfte von Cancano di Dentro, Cancano di Fuori, Campaccio, Ponte del Forno.
In die Stauseen von Cancano und Fraele fließen über ein unterirdisches Stollensystem von 32 km Länge auch die Wasser aus dem Zebru-, Forni- und Gaviatal. Die hydroelektrische Abarbeitung der Energie erfolgt an der E-Werkszentrale in Premadio. Den beiden Stauseen vorgelagert ist am Passo delle Scale der kleine Natursee Lago delle Scale.
In den letzten Jahren haben die im Stausee gehorteten Wassermengen wegen der Abnahme der Niederschläge und v.a. auch des Schmelzwassers abgenommen. Und der niedrigere Füllstand des Stausees hatte zur Folge, dass die Reste der Kirche wieder trockengefallen sind. Im heurigen Sommer ist die Freilegung der Fundamente von Lehm-, Schutt- und Sandschichten erfolgt. Den Auftrag dazu haben die Abteilung Archäologie der Region Lombardei, die Abteilung Landwirtschaft und Forstwirtschaft der Region Lombardei (ERSAF – Ente Regionale per i Servizi all´Agricoltura e alle Foreste) und das lombardische Amt des Nationalparks Stilfserjoch erteilt. Die Grabung durchgeführt hat der Archäologe Dr. Federico Zoni. Dr. Zoni ist Spezialist für das Mittelalter und Universitätslehrer in Bergamo.
Dem bisher unveröffentlichten Bericht von Prof. Zoni kann man entnehmen, dass die untergangene Kirche von San Giacomo di Fraele in drei Bauphasen errichtet worden ist:
• Eine erste Kirche im Mittelteil der heute wieder frei gelegten Fundamentumrisse geht auf das 11./12. Jahrhundert zurück und hatte ein Ausmaß von 8 auf 6 Metern. Urkundlich erwähnt ist die Kirche erstmals 1287. Damals wird auch eine „hostaria“ beschrieben.
• In einem zweiten Bauabschnitt wurde die Kirche im 15./16. Jahrhundert um die ostseitige Apsis s49 parkerweitert und es wurde der Turm errichtet.
• In einer dritten und letzten Bauphase wurde zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert westseitig ein Atrium als Vorraum zur Kirche und an der Langseite eine kleine Sakristei errichtet.
Die Kirche trug über dem Schiff ein Kreuzrippengewölbe und war großteils mit Fresken ausgemalt. Die Ausschmückung mit Fresken lässt sich aus den Resten im Bauschutt dokumentieren. Dr. Zoni sieht Parallelen und Stilverwandtschaften mit der Kirche von San Gallo im Talbecken von Bormio. Und natürlich ist das Patrozinium zum Heiligen Jakobus nicht zufällig. Wie schon erwähnt lag die Kirche am Pilgerweg zur spanischen Grabstätte des Apostels. Jahrhunderte lang bevor 1825 die Passstraße über das Stilfserjoch eröffnet wurde, führte der Saum- und Pilgerweg vom Münstertal über die Val Mora und die Hochebene von Cancano und Fraele nach Bormio und in das Veltlintal.

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