Soldaten als Lawinenfutter (Teil 1)

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Aus dem Gerichtssaal - Vor über 50 Jahren, am 12. Februar 1972, kam es im Zerzertal, einem Seitental oberhalb von St. Valentin, zu einem folgenschweren Lawinenunglück, das sieben jungen Soldaten der 49. Kompanie des Bataillons „Tirano“ der Alpinibrigade „Orobica“ das Leben kostete. Die 200 Mann der Einheit unter dem Kommando des Leutnants Gianluigi Palestro hatten auf der Oberdörfer Alm übernachtet und waren um 5 Uhr in der Früh aufgebrochen, um über das Schlinigjoch in die Ausgangskaserne nach Mals zurückzukehren. Das alles im Rahmen eines vom Brigadegeneral Mario Di Lorenzo anbefohlenen Wintermanövers, an dem auch die 31. und 32. Kompanie der Gebirgsartillerie samt Mulis hätten teilnehmen sollen. Als sich der Zug in Bewegung setzte, war die Sicht gleich Null, nur zwei Soldaten hatten eine Taschenlampe bei sich. Es stürmte und schneite. Nach einer Dreiviertelstunde hatte die Kolonne gerade mal 300 Meter zurückgelegt. Da begann es dem befehlshabenden Leutnant zu dämmern, dass Gefahr drohte. Er ordnete den Rückmarsch an. Der war genauso chaotisch wie schon der Aufbruch gewesen war. Plötzlich und fast lautlos löste sich vom steilen Hang oberhalb des Sommerweges eine Lawine, die 17 Alpini verschüttete. Drei von ihnen starben noch unter den Schneemassen, vier erlagen dann am Unfallort den erlittenen Verletzungen.
Als der Meraner Berg- und Skiführer Ulli Kössler in den Abendnachrichten vom Unglück erfuhr, begab er sich am nächsten Tag an den Ort der Tragödie. Und da kam er aus dem Kopfschütteln nicht heraus. Denn die Militärs hatten bei ihrem Marsch ins winterliche Gelände so ziemlich alles falsch gemacht. Das fing bei der Wahl der Aufstiegsroute an. Hätte die Kolonne nämlich hinter der Alm auf der linken Talseite das sanfte Gelände gewählt, wären sie gefahrlos auf das Schlinigjoch gelangt. Stattdessen entschieden sie sich, dem Sommeranstieg folgend, für den Weg unter dem über 40 Grad steilen Hang, der für den Abgang von Lawinen geradezu prädestiniert war, zumal es die Tage vorher gestürmt und geschneit und während der Nacht auch noch Tauwetter eingesetzt hatte. Auf die akute Lawinengefahr hatte zudem der vom Land kurze Zeit vorher eingerichtete amtliche Warndienst hingewiesen. Unter dem Eindruck dieser erschütternden Feststellungen richtete der damals allgemein als „Lawinenpapst“ bezeichnete Ulli Kössler einen aufrüttelnden Leserbrief an die „Dolomiten“ und an den „Alto Adige“. Seine Analyse und wohl auch das im Zusammenhang mit dem Unglück von der linksradikalen „Lotta continua“ unter der Federführung von Alexander Langer angelegte Dossier führten dazu, dass die Staatsanwaltschaft in Bozen gegen den General Di Lorenzo und den Leutnant Palestro Anklage wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung erhob. Damit war für Ulli Kössler schon mal der Hauptzweck erreicht, den er sich mit seinem Leserbrief vorgenommen hatte: Zu verhindern, dass über den Vorfall, wie bei früheren Gelegenheiten von militärischer Seite üblich, der Mantel des Schweigens gebreitet oder von „unvorhersehbaren Schlägen des Schicksals“, von „ehrenhaftem Tod für das Vaterland“ oder von „Erfüllung einer patriotischen Pflicht“ geschwafelt würde. Denn zu ähnlichen Unglücksfällen wie im Zerzertal war es in den Jahren zuvor immer wieder und auf ähnlich dilettantische Weise gekommen: Im Februar 1961 im Schnalstal mit 2 Toten, im gleichen Jahr im Rojental mit 5 Toten, 1962 im Matschertal mit einem Toten und 1970 im Pragser Tal mit 7 Toten. Im Laufe des Strafprozesses sollten dann weitere makabre und für das Militär noch peinlichere Details bekannt werden: Der Mannschaft fehlte es an Schaufeln, um die Verschütteten aus dem Schnee befreien zu können, drei mussten erst im Schuppen der Oberdörfer Alm gefunden werden; das Funkgerät, über das Hilfe hätte herbeigerufen werden sollen, funktionierte nicht, sodass der damals 27-jährige „Sottotenente“ Heinrich Müller, heute Wirtschafts- und Steuerberater in Schlanders und damals Mitglied des Zuges, auf seinen Skiern bis fast nach St. Valentin abfahren musste, um Funkkontakt zu bekommen; die ersten und einzigen Rettungskräfte, nämlich die Freiwillige Feuerwehr von St. Valentin, trafen somit erst gegen 13 Uhr mit einer Schneekatze am Unfallort ein; der Mannschaft war keine Rettungseinheit samt Arzt, Sanitätern, Medikamenten und Wiederbelebungsinstrumenten beigeordnet, obwohl deren Präsenz bei Übungen dieser Größenordnung vom Militärreglement verpflichtend vorgeschrieben war. Diese Einheit gab es zwar, aber sie weilte wohlbehalten in der Kaserne in Schlanders!
Dem Strafverfahren gegen die Militärs hatten sich die Hinterbliebenen der 7 toten Alpini mit dem Welschtiroler Anwalt Sandro Canestrini als Nebenkläger angeschlossen. Über den Verlauf des Prozesses berichtet im nächsten Beitrag wieder

Peter Tappeiner, Rechtsanwalt
peter.tappeiner@dnet.it

Gelesen 1974 mal

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