Montag, 29 Februar 2016 12:00

Individualisierung und Öffnung

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s6 Lebenshilfe2Im April 1966, also vor 50 Jahren, wurde die Lebenshilfe Südtirol gegründet. 1968 kam es zur Gründung der Lebenshilfe Vinschgau. Seit dem 17. März 1986, also seit 30 Jahren, gibt es die Werkstätten und seit 1988 auch das Wohnheim der Lebenshilfe in Schlanders. Ging es am Anfang um den Bau von Einrichtungen und die Sensibilisierung der Bevölkerung, so geht es heute um Öffnung, Arbeitseingliederung und Individualisierung.

von Heinrich Zoderer

Vieles hat sich geändert in den letzten 50 Jahren, sehr vieles hat sich verbessert. Nach den Vorbildern von Deutschland und Österreich wurde in Südtirol vor 50 Jahren die Lebenshilfe gegründet.

Ein privater Verein von vielen Idealisten setzte sich für die Behinderten ein. Die Situation war sehr desolat, man versuchte zu beraten und zu helfen. „Still, aber fruchtbringend im Dienste an unsere Mitmenschen“, wie es in einer Sondernummer über die Lebenshilfe Vinschgau aus dem Jahre 1988 heißt. Anfangs sorgte man sich um Zivilinvalidenrenten, um Begleitzulagen, um die Spesendeckung für Spezialbehandlungen und s6 Lebenshilfe1man wollte eigene Strukturen für die Behindertenarbeit schaffen, um allen Behinderten ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, wie Frieda Oberegelsbacher in der Sondernummer schreibt. Ganz konkret wurde daran gearbeitet, eine „Beschützende Werkstätte für Behinderte“ und ein Heim für die Behinderten in Schlanders zu bauen. Das erste eingereichte Projekt wurde vom Land zurückgewiesen, da zu wenig Baugrund vorhanden war. Doch am 7. Juli 1984 fand die Grundsteinlegung statt und am 17. März 1986 konnte die Werkstätte mit elf Behinderten und drei Betreuern eröffnet werden. Im Herbst 1988 wurde auch das Heim mit einem Speisesaal, einer Küche, mit Therapie- und Mehrzweckräumen sowie Büros eröffnet. 16% der Baukosten, insgesamt 400 Millionen Lire, wurden durch Spenden und eine große Bausteinaktion aufgebracht. Das war beachtlich. Bis heute ist diese Einrichtung in Schlanders, die seit einigen Jahren „Haus Slaranusa“ heißt, die größte und wichtigste Einrichtung der Lebenshilfe. Es ist auch bis heute die einzige Behindertenwerkstätte im Lande, die von einem privaten Verein geführt wird. Wie die Präsidentin der Lebenshilfe Vinschgau, Johanna Stecher, mitteilte, war man in der Anfangsphase darum bemüht, geeignete Einrichtungen zu schaffen, das Personal zu schulen und die Behinderten, wie sie genannt wurden, gut zu betreuen und zu versorgen. In den Werkstätten wurden verschiedene Arbeitsgruppen eingerichtet: eine Webergruppe, eine Tischlergruppe, eine Nähgruppe, eine Flechtergruppe und eine Töpfergruppe. Eine Wachsgießergruppe und eine Kreativgruppe kamen etwas später noch hinzu. Diese Arbeitsgruppen, ausgenommen die Töpferei, gibt es auch heute noch. Unter dem Motto „satt, sauber, trocken“ wurden jene Menschen, die im Heim untergebracht waren, behandelt. Die Behinderten wurden lange als Objekte des Mitleids gesehen, unfähig zu Eigenständigkeit und Eigenverantwortung. Und natürlich fragte man nicht nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen. Feste, Urlaube wurden organisiert und alle machten mit bzw. mussten mitmachen.

Früher standen die Einrichtungen im Mittelpunkt, heute die einzelnen Menschen mit ihren Beeinträchtigungen, ihren Fähigkeiten und ihren individuellen Bedürfnissen.

In den letzten Jahrzehnten kam es zu einem Umdenken in der Gesellschaft. Nicht nur die Behindertenarbeit, sondern die ganze Sozialarbeit hat sich geändert. Heute spricht man von Menschen mit Beeinträchtigung, einige reden sogar von Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Die Eigenständigkeit soll so lange wie möglich bewahrt und gefördert werden, es geht um selbständiges Wohnen, Arbeitseingliederung, um Öffnung und Teilhabe, um Integration und Inklusion, nicht um Absonderung und Versorgung. Im Haus Slaranusa hat dieser Umdenkprozess vor allem nach dem Evaluationsprozess 2007 mit dem Nordtiroler Felix Finster und dem Vinschger Sascha Plangger stattgefunden. Wie Georg Horrer, der Leiter des Hauses Slaranusa, in einem ausführlichen Gespräch berichtete, wurde nicht nur das Wohnheim vor fast 10 Jahren baulich und s7 Horrer Pinzger Kaserer Ratschillerkonzeptuell umstrukturiert, sondern auch ein Arbeitsverbund aufgebaut, der heute nicht nur kreative Arbeiten in den verschiedenen Werkstätten macht, sondern eine ganze Reihe von Montagearbeiten, Etikettierungsarbeiten und Serienarbeiten von verschiedener Betriebe im Vinschgau übernimmt. Grundsätzlich ist man bemüht alle Menschen mit Beeinträchtigung, unabhängig von der Schwere ihrer Behinderung, in den Arbeitsprozess einzubinden. Nach dem Vorbild des Vorarlberger Modells „Spagat“ soll in Zukunft auch für Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf begleitete Arbeitsintegration in privaten und öffentlichen Betrieben angestrebt werden. Zurzeit fehlen in Südtirol leider noch die politischen und finanziellen Rahmenbedingungen! Das Wohnheim in der ursprünglichen „Internatsform“ wurde ebenfalls aufgelöst. Heute gibt es keine Mehrbettzimmer mehr, sondern kleine Wohngemeinschaften mit individuellen Einzelzimmern, wo Menschen, die nicht zu Hause oder nicht selbständig wohnen können, in einer familienähnlichen Gemeinschaft leben. 16 Betreute leben in 4 Wohngemeinschaften im Haus Slaranusa und 4 Personen relativ selbständig in einer WG im Dorfzentrum. Emma Pinzger, die bisherige Leiterin der Wohngemeinschaften und Wilfried Kaserer, der neue Leiter der Wohngemeinschaften, betonen, dass jede Wohngemeinschaft eine eigene Küche und einen Gemeinschaftsraum haben und jede Person hat ein eigenes Zimmer. Die Wohngemeinschaft kauft selber ein und kocht am Abend für sich selbst. Zu Mittag essen alle im Speisesaal. Die 20 Betreuten werden von insgesamt 16 Betreuern rund um die Uhr und auch über das Wochenende unterstützt, soweit Unterstützung notwendig ist. Viele Betreuer arbeiten in Teilzeit. Von 8:30 bis 15:30 Uhr arbeiten alle in den verschiedenen Werkstätten. Mehrere Menschen mit Beeinträchtigung wohnen zu Hause und kommen jeden Tag ins Haus Slaranusa zum Arbeiten. Beim Gang durch die Werkstätten mit Manfred Ratschiller, dem Leiter des Arbeitsverbundes, glaubt man, dass man sich in den Räumen der Firma Hoppe befindet. Viele Arbeitsgruppen machen Montagearbeiten für Hoppe. Eine eigene „Hoppegruppe“ arbeitet zusammen mit dem Betreuer Herbert Telser direkt bei der Firma Hoppe in Schluderns. Diese „Hoppearbeiter“ sind in den Betrieb gut integriert und beteiligen sich mit viel Freude auch bei den Betriebsfeiern. Aber auch für die Firma Pedross, die Firma Recla, die Firma Fuchs und andere Betriebe werden gelegentlich Klebearbeiten, Verpackungsarbeiten und Montagearbeiten übernommen. Die „Gemeinde-Gruppe“ säubert und pflegt zusammen mit einem Betreuer die verschiedenen Parkanlagen und Spielplätze in Schlanders. Seit November 2015 gibt es in der Göflanerstraße in Schlanders, ganz in der Nähe des Gemeindehauses und der Sparkasse den Dorfladen „Slaranusa“. Als Zeichen der Öffnung und der stärkeren Integration in das Dorfleben, werden dort die verschiedenen Produkte der Werkstätten verkauft und jede Woche kommt eine andere Arbeitsgruppe zum Arbeiten in den Dorfladen. Wie Georg Horrer meinte, ist man momentan nur am Vormittag im Dorfladen und sucht auf diese Weise den Kontakt mit verschiedenen Menschen, geplant ist den Dorfladen auch am Nachmittag zu öffnen. Mit 43 Betreuten und rund 40 Mitarbeitern, viele davon in Teilzeit, ist die Lebenshilfe Vinschgau einer der größten Privatbetriebe im Tal. Die Gesamtausgaben betragen 1,9 Millionen Euro. Rund 10%  muss selbst erwirtschaftet werden. Es gibt mehrere Freiwillige, die beim Weihnachtsmarkt und bei Feiern mithelfen, die Spendenfreudigkeit hat aber generell stark abgenommen, meinte Horrer. Von der Bezirksgemeinschaft erhält die Lebenshilfe Tagessätze für die Betreuten: das sind 55, 80 bzw. 156 Euro pro Tag, je nach Dienstleistung. Die verschiedenen Firmen bezahlen für die ausgeführten Arbeiten und die Betreuten erhalten ein bescheidenes Taschengeld von 40 bis 140 Euro im Monat. Der Druck zu sparen ist auch in der Lebenshilfe spürbar und 2012 musste die gesamte Dienstleistung der Lebenshilfe in Schlanders durch die Bezirksgemeinschaft Vinschgau europaweit ausgeschrieben werden. Damals gab es neben der Lebenshilfe Vinschgau keine weiteren Bewerber, aber wie es in Zukunft aussieht, das weiß niemand. Joahnna Stecher versteht nicht, warum diese Dienste ausgeschrieben werden müssen, sie bezweifelt auch deren Sinnhaftigkeit. Dies ist nur eine der neuen Herausforderungen. Die zunehmende Überalterung der Betreuten, die Ansprüche nach Autonomie, Personalisierung und Individualisierung sind weitere Herausforderungen, denen man sich aber selbstbewusst stellen will, in der Hoffnung, dass viele Menschen sich an diesem Prozess beteiligen und nicht wegschauen, wenn es um die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft geht.

Präsidenten der Lebenshilfe Vinschgau:
1968 - 1975      Alois Gamper
1975 - 1976      Arnold Bernhard
1976 – 1987     Dekan Josef Schönauer
1987 – 1990     Hermann Schönthaler
1990 – 2006     Alois Pichler
2006 – 2013     Dieter Pinggera
Seit 2013          Johanna Stecher Gemassmer

Vorstand der Lebenshilfe Vinschgau:
Johanna Stecher (Präsidentin)
Dieter Pinggera (Vizepräsident)
Monika Wunderer (Kassierin)
Helmut Haller (Schriftführer)
Irene Steiner (Sportkoordinatorin)
Beiräte: Sieglinde Gufler, Margareth Kainz,
Rosa Maria Nagl, Lukas Graiss

Leitungsteam und Verwaltung:
Georg Horrer
Leiter des Hauses Slaranusa und Bereichsleiter Arbeit/Wohnen der Lebenshilfe Südtirol

Manfred Ratschiller
Leiter des Arbeitsverbundes

Emma Pinzger
bisherige Leiterin der Wohngemeinschaften

Wilfried Kaserer
Leiter der Wohngemeinschaften

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1 Kommentar

  • Kommentar-Link Marlis Bux Dienstag, 28 Mai 2019 04:53 gepostet von Marlis Bux

    ich habe Wollreste. Brauchen Sie diese?

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