Nationalpark Stilfserjoch - Der Wolf aus der Sicht des Verhaltensforschers Prof. Kurt Kotrschal

geschrieben von Ausgabe 4-19

282B2Wolfgang Platter, am Tag des Hlg. Valentin, 14. Februar, Patron gegen hinfallende Krankheiten und für das Vieh

Prof. Matthias Gauly von der Universität Bozen und Prof. Martin Lintner von der Philosophisch Theologischen Hochschule Brixen haben zwischen Oktober 2018 und Februar 2019 an der Universität Bozen eine für alle Interessierten offene, siebenteilige Vorlesungsreihe zum Thema „Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier“ organisiert.

Inhalte der Vorlesungen mit hochkarätigen Referenten aus dem deutschsprachigen Ausland und aus Südtirol waren u.a. die Domestikation und genetische Veränderung der Nutz- und Haustiere, die Entstehung der Tierschutzbewegung, die Stellung der Tiere in den Weltreligionen, unsere menschliche Ernährung aus Pflanzen und Tieren oder vegetarisch/vegan, die Qualzucht, Tierfriedhöfe und Tierbestattungen. Der Vortrag am 5. Februar 2019 von Prof. Dr. Kurt Kotrschal aus Wien war dem Thema „Die Rückkehr der Wildtiere“ mit dem Schwerpunkt Wolf gewidmet. In meinem heutigen Beitrag fasse ich den Vortrag zusammen, auch weil er wertvolle, objektive und wissenschaftliche Informationen ent-hielt, welche die oftmals recht einseitige Sichtweise erweitern helfen.
Prof. Kurt Lotrschal ist nunmehr emeritierter Universitätsprofessor für Zoologie und Verhaltensforschung in Wien und Leiter des Wolfsforschungszentrums Ernstbrunn.  Die Verhaltensforscher am Wolfsforschungszentrum Ernstbrunn arbeiten mit 16 sozialisierten Timber-Wölfen und 14 Mischlingshunden in Gehegehaltung.
Eingangs stellte Prof. Kotrschal in seinem Bozner Vortrag fest, dass Menschen und Hunde seit 35.000 Jahren zusammenleben und Hunde in der Steinzeit durch die Domestikation von Wölfen entstanden sind. Auf die Frage, ob Artenschutz der Prädatoren auf (nur kleine) Schutzgebiete beschränkt und der (große) Rest unserer Landschaft alleiniger und exklusiver Wirtschaftsraum für uns Menschen bleiben soll, gab Prof. Kotrschal eine eindeutige Antwort: Es gibt nur einen integrativen, wirksamen Artenschutz unter Einbezug der Kulturlandschaft des Menschen  mit verbindenden Korridoren darin oder gar keinen Artenschutz.

Brauchen wir die Prädatoren?
Zur Frage, ob wir die großen Prädatoren Wolf, Luchs und Bär brauchen, führte Kurt Kotrschal fünf Argumente zum Erhalt der großen Beutegreifer an:
• das ökologische Argument: Wölfe sind Spezialisten im Festmachen schwacher Beute. Wo der Wolf geht, fehlen die Mesoprädatoren Waschbär und Goldschakal, weil sie der Wolf erbeutet. Auch die Dichte des Rotfuchses bleibt im Wolfsgebiet niedrig. Wo in der Slowakei der Wolf geht, gibt es keine Schweinepest an Wildschweinen; die kranken Schweine werden herausgeputzt.
• das  ethische Argument: die Afrikaner schützen unter großen Verlusten an Nutztieren die Löwen zum Erhalt der Biodiversität und wir Europäer werden mit „ein paar Wölfen nicht fertig?“
• das demokratiepolitische Argument: Laut zwei unabhängig voneinander durchgeführten Meinungsumfragen in Österreich ist eine deutliche Mehrheit der Bürger quer durch alle Berufs- und Altersgruppen  für die Rückkehr des Wolfes. Weltweit fallen 95% der Biomasse von Wirbeltieren auf menschliche Nutztiere und nur 5% auf die Wildtiere. Und angesichts dieser Zahlenrelation sollen Wildtiere keinen Platz mehr haben?
• die globale Perspektive: Weltweit gibt es einen besorgniserregenden, beängstigenden und rasanten Verlust an der Vielfalt von Arten und an der Abundanz der einzelnen Arten.
• das regionale Argument: der Alpenraum ist ein wichtiges Rückzugsgebiet für die Prädatoren.

Konflikte und Synergien
Zur Bedeutung der Beutegreifer für den menschlichen Nutzen und zu den Konflikten und Synergien führte Prof. Kotrschal aus, dass
- Jagd und Fischerei kein „monolithischer Block“ gegen den Wolf sei, sondern unter Jägern eine ambivalente und differenzierte Meinung vorzufinden sei mit Befürwortern und Gegnern;
- es auch unter den Touristikern Positionen für und gegen den Wolf gäbe. In östlichen Ländern Europas wird der Wolf für den Tourismus genutzt.
- In der Forstwirtschaft gäbe es eine Meinung, dass der Wald wächst, wo der Wolf geht, weil er das Rotwild ausdünnt und damit Verbiss-Schäden drücke.  Prof. Kotrschal sagte aber, dass uns dazu verlässliche Zahlen fehlen.
- Zur Landwirtschaft schlüsselte Kotrschal folgende Zahlen zu den Weidetieren auf: In Südtirol wurden im Jahre  2017 21.000 Ziegen und 37.000 Schafe gealpt, 40 davon gingen an den Wolf. In Österreich wurden von den 360.000 gealpten Schafen 60 vom Wolf gerissen. In der Schweiz gingen von 320.000 Schafen etwa 400 an den Wolf. Im Schnitt betrugen die  Verluste durch den Wolf also 1-3% per anno.

Ausrottung, Wiederkehr und Verbreitung
Im 18. und 19. Jahrhundert wurde der Wolf über weite Teile Mitteleuropas ausgerottet. Gründe für die Ausrottung waren der Absolutismus, die Jagdkonkurrenz, die steigende Dichte an Menschen am Land und die Nutzungskonflikte, der Verlust der Nahrungsbasis für den Beutegreifer.
Der Wolf ist weltweit als Art nicht gefährdet, sehr wohl aber sind seine Unterarten gefährdet wie etwa der Iberische Wolf in Spanien. Weltweit wird der Wolfbestand auf 200.000 Individuen geschätzt. Zum Vergleich: Es gibt weltweit 1 Milliarde Hunde. In Europa einschließlich Weißrussland und Russland leben schätzungsweise 20.000 Wölfe. Aber Prof. Kotrschal hat ausdrücklich vor Zahlenfetischismus gewarnt.
Die Nahrungsbasis für Wölfe war noch nie so gut wie heute, zumal alle Schalenwildbestände wachsen. In Österreich werden jährlich 40.000 straßentote Rehe gemeldet. Diese überfahrenen Rehe würden rein rechnerisch als Nahrungsgrundlage für 1.000 Wölfe ausreichen.

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Wolffreies Österreich?
Ein wolffreies Österreich ist laut Kurt Kotrschal eine Illusion. Ganz Mitteleuropa ist inzwischen Wolfszone. Wölfe sind sehr elusiv. Sie ziehen nach dem Verlassen ihres Stammrudels auf der Suche nach neuen Territorien riesige Strecken  von bis zu 100 Kilometern pro Tag. Ein Wolf, der 2017 in der Nähe des französischen Nizza besendert worden ist, war völlig unauffällig, erst im Mai 2018 ist er in Weyer in Niederösterreich und im September 2018 im Wiener Wald verhaltensauffällig geworden.

Zum Schutzstatus
Die Einstellung der Gesellschaft zum Wolf hat sich von seiner Ausrottung herauf im Laufe der Zeit gewandelt, v.a. seit der deutschen Romantik. Durch die Berner Konvention und die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft genießt der Wolf den höchsten Schutzstatus.

Problemwöfe
Als Prädatoren töten Wölfe nicht tierschutzgerecht. Die Bilder von getöteten, verletzten und angefressenen Nutztieren sind schwer auszuhalten. Kurt Kotrschal hat sich in seinem Vortrag für die Entnahme von Problemwölfen ausgesprochen und zwar ausdrücklich auch durch Abschuss. Ein Wolf ist aber nach Kotrschal noch kein Problemwolf, wenn er sich an ungeschützten Haustieren vergreift. Zum Problemwolf wird er, wenn er geschützte Haustiere reißt. Mit dieser Einschätzung der Experten werden wir in unseren Weidepraktiken und bei der Almsömmerung mit Herdenschutz reagieren müssen.

Herdenschutz und Schadensabgeltung  
Dass der Herdenschutz wirkt, hat Prof. Kotrschal am Beispiel Niedersachsen gezeigt. Die Schadensabgeltung muss nunmehr laut neuer Beschlusslage der Europäischen Kommission in allen Mitgliedländern einheitlich zu 100 % erfolgen. Dazu stehen Finanzmittel aus der EU bereit. Der Herdenschutz bleibt aber zugegebenermaßen ein Problembereich und eine Konfliktzone. Er ist aber laut Kotrschal dringend anzugehen: „Disneyland in den Alpen war gestern, ab morgen gibt es wieder Natur in den Alpen.“

Hybridisierung
bilder wolfarten 017Zur Bastardisierungsrate zwischen Wölfen und Hunden kursieren unterschiedliche Zahlen, Vermutungen und Einschätzungen. Laut Kurt Kotrschal gibt es keine europäische Wolfspopulation ohne Hybridisierung: Wölfe und Hunde sind seit 30.000 Jahren ein kommunizierendes System. Die Frage sei, wie weit zurück liegt zeitlich die Hybridisierung. Und: Selbst die Bastarde der F1-Generation (Filialgeneration) zeigten (wildes) Wolfs- und nicht  (zahmes) Hundeverhalten. Eine neue Schweizer Untersuchung hat bei einer großen Stichprobenbreite von 1.000 Proben ergeben, dass in den rezenten Schweizer Wölfen (nur) bei 2% Hundegene nachweisbar waren.

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