Dienstag, 30 Mai 2017 12:00

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s10sp12 1402Vinschgerwind - Interview

Vinschgerwind:Frau Primaria Perwanger, mit welchen Krankheitsbildern hat die Psychiatrie zu tun?
Verena Perwanger: In der Psychiatrie hat man mit dem ganzen Spektrum psychischer Erkrankungen zu tun. Die häufigsten Krankheitsbilder sind depressive Störungen und Angststörungen.

Die Störungen, die uns am meisten beschäftigen, sind Depressionen, bipolare Störungen und Psychosen wie Schizophrenie. Dann gibt es noch den Bereich der Persönlichkeitsstörungen, aber auch Essstörungen, Zwangserkrankungen  und soziale Phobien.

Vinschgerwind: Wie kann man eine psychiatrische Behandlung von einer psychologischen Behandlung abgrenzen?
Perwanger: Eine psychiatrische Behandlung ist umfassender, indem sie eine psychologische Komponente beinhaltet, aber zusätzlich auch die medizinische Seite berücksichtigt. Das ist sowohl die medizinische Abklärung als auch die pharmakologische Behandlung.

Vinschgerwind: Haben Sie im Laufe Ihrer jahrelangen Tätigkeit eine Veränderung der Krankheitsbilder feststellen können?
Perwanger: Ja. Eine Problematik, die in den letzten Jahren stark zugenommen hat, sind Jugendliche mit psychotischen Störungen und mit Doppeldiagnosen, d.h. zusätzlichem Missbrauch von Alkohol, Cannabis und anderen Drogen. Auch der Bereich der Persönlichkeitsstörungen hat stark zugenommen. Die klassischen Störungen wie Schizophrenie oder bipolare Störungen sind eher konstant geblieben. Auf der anderen Seite ist es so, dass sich die Menschen auch vermehrt an die Dienste wenden. Die Hemmschwelle, bei einem Psychiater oder einem Psychologen Hilfe zu suchen, ist gesunken.

Vinschgerwind: Auch weil die Gesellschaft, die Familien sensibler geworden sind?
Perwanger: Weil man sensibler geworden ist, weil das Stigma etwas abgenommen hat, die Dienste präsenter sind und es mehr Informationen über Störungen gibt.

Vinschgerwind: Als Primaria in Meran sind Sie für die Meraner Umgebung, für Passeier, Ulten und auch für den Vinschgau zuständig. Unterscheidet sich der Vinschgau in den Krankheitsausprägungen?
Perwanger: Nicht wesentlich. Eventuell könnte man sagen, dass es in den Städten soziale Devianz oder Substanzmissbrauch etwas häufiger gibt.

Vinschgerwind: Welche Erklärungen hat man für den Anstieg von psychiatrisch relevanten Erkrankungen bei Jugendlichen?
Perwanger: Ich denke, dass das etwas mit sozialen Veränderungen, mit Umbruchsituationen zu tun hat. Manche Familien haben relativ große Schwierigkeiten mit der Erziehung und dem Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Auf der einen Seite gibt es ein Mangel an Regeln und Grenzen, auf der anderen Seite einen Mangel an echter Zuwendung.
Vinschgerwind: ...Kann man das auch in der Peripherie feststellen? Das klingt nach städtischem Verhalten...
Perwanger: Ich denke, es wird mehr. Eltern sind mehr unter Druck. Sie sind oft selbst in schwierigen Situationen. Der soziale Rückhalt in der Großfamilie fällt zunehmend weg. Oft ist es die Kombination: wenn Eltern damit überfordert sind, vernünftige Grenzen zu ziehen, gleichzeitig aber die Zuwendung nicht schaffen. Banal gesagt: Man erlaubt den Kindern Vieles, weil man nicht die Kraft hat, ihnen konstruktiv Grenzen zu setzen. Dann suchen die Kinder diese Grenzen anderswo. Eine Art, solche Grenze auszutesten, kann der Substanzmissbrauch sein. Drogen sind in allen Schulen ein großes Thema. Wir haben heute kaum Jugendliche, die nicht in irgendeiner Form Erfahrung mit Substanzen haben. Im Vinschgau sind die Missbrauchsrate und die Verfügbarkeit von Substanzen groß.

Vinschgerwind: Ihre Erfahrung und Ihre Gegenwartsdiagnose zugrunde gelegt, wie schaut das in Zukunft aus?
Perwanger: Eine gute Frage. Das Thema wird nicht so sehr nur ein psychiatrisches sein, sondern ein gesellschaftspolitisches, ein kulturelles. Welche Möglichkeiten findet man, den Jugendlichen Halt, Wertschätzung, aber auch Regeln und Grenzen zu geben, damit sie eben nicht auf diese Schiene geraten? Oder welche Möglichkeiten der Unterstützung hat man für Eltern, die sich schwertun, ihr eigenes Leben in den Griff zu bekommen, damit sie dann auch das ihrer Kinder positiv begleiten können?

Vinschgerwind: Ist der Vinschgau psychiatrisch gut versorgt?
Perwanger: Der Vinschgau ist im Rahmen unserer Möglichkeiten gut versorgt.
Vinschgerwind: Was heißt das konkret?
Perwanger: Im Bezug auf die Nachfrage bräuchten wir mehr Personal. Mehr Psychiater und mehr Psychologen. Jedenfalls einiges mehr.
Vinschgerwind: Ist diese Forderung bereits politisch deponiert?
Perwanger: Diese Forderungen sind im Sanitätsbetrieb und bei der Landesrätin deponiert. Auch wir sind eingebunden in den Umstrukturierungsprozess des Sanitätsbetriebes, was eine Ressourcenforderung nicht einfacher macht. Aus meiner Sicht hätten zwei zusätzliche Psychiater und drei Psychologen  im Raum von Meran, zu dem auch der Vinschgau gehört, genug zu tun.

Vinschgerwind: Getrauen Sie sich zu sagen, dass in der Versorgungskette psychiatrischer Patienten zwischen den baulichen Strukturen, den Sozialdiensten usw. der psychiatrische Dienst das schwächste Glied ist?
Perwanger: Das würde ich nicht sagen. Dazu ein paar Zahlen. Wir betreuen pro Jahr rund 2.400 Patienten. Wir haben pro Jahr mehr als 140.000 Leistungen . Wir sind zwischen Burgstall und Reschen präsent. Natürlich könnte es noch mehr sein. Am Optimum sind wir sicher nicht, aber auch nicht an der unteren Schwelle.

Vinschgerwind: Was wäre dringend notwendig?
Perwanger: Dringend wäre es, den Bereich Prävention auszubauen sowie die Versorgung in neuen Bereichen, z.B. Autismusspektrumstörungen oder ADHS.

Vinschgerwind: Es gibt problematische Situationen im Vinschgau. Wenn etwa psychiatrische Patienten im Altersheim untergebrachte werden...
Perwanger: In manchen Situationen kann das durchaus die richtige Lösung sein. In einigen Fällen ist es leider die einzige Möglichkeit, über die wir nicht glücklich sind, für die es aber keine andere Lösung gibt.

Vinschgerwind: Was sind Ihre Vorschläge, das zu lösen?
Perwanger: Mein Anliegen ist es, alternative Wohnformen zu finden. Dies wurde bereits mit den Sozialdiensten der Bezirksgemeinschaften Vinschgau und Burggrafenamt besprochen. Solche Wohnformen sollten es Personen mit einer psychischen Erkrankung im Alter zwischen 50 und 70 Jahren  ermöglichen, mit einer guten Lebensqualität und einer ausreichenden Betreuung in einem normalen Umfeld zu wohnen. Dies wäre auch finanziell wesentlich günstiger,  als die Menschen im Altersheim unterzubringen. Innovatives Denken ist gefragt und man wird sich von den klassischen Modellen entfernen müssen. Zwei Dinge werden benötigt: Erstens die genannten alternativen Lösungen für ältere Personen. Das Zweite sind Wohnformen für Jugendliche und junge Erwachsene. Es ist verständlich, dass junge Leute mit einer Ersterkrankung, möglicherweise durch Substanzmissbrauch, sich in einer Gemeinschaft mit älteren, schon seit längerem psychiatrisch betreuten Menschen, nicht besonders wohlfühlen.  Bei den Jugendlichen geht es darum, dass Behandlungen möglichst schnell und intensiv greifen, um den Kontakt zum sozialen Umfeld rasch wiederherstellen zu können.

Interview: Erwin Bernhart

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