Das Räderwerk einer Mühle ist mindestens so geheimnisvoll wie das Gehirn eines Menschen. Es gibt Gemeinsamkeiten: Das Rattern einer Mühle erinnert an die hämmernde Rechthaberei eines Philosophen. Ich darf das sagen, weil ich selbst ein Philosoph bin; auch habe ich Müller - sogar einen Mühlenbauer - unter meinen Vorfahren. Deshalb ist mir das nackte Räderwerk einer verfallenen Mühle schmerzlich aufgefallen. Es lag am Tscharscher Waalweg nach Juval, oberhalb von Staben, schutzlos zwischen Dornenhecken. Wie Christus am Kreuz. Das Gehäuse war schon längst verfallen, erhalten hatten sich nur die Innereien.
Vom „Wellpaam“ der Mühle ausgehend wird die Kraft auf vielfältige Weise übertragen, zuerst auf den sich drehenden Mahlstein, den „Lafer“. Dann folgt die Übersetzung für die verschiedensten Dienste, so auch für die Schüttelbewegung. Die Nockenwelle - für den Laien sieht sie ähnlich aus wie ein Zahnrad - ermöglicht die Umformung der gleichmäßigen Drehbewegung des Mühlrades in eine Auf- und Abbewegung. Das alles geschieht gleichzeitig und ineinander greifend, ein Wunderwerk der Technik, die erste Maschine der Menschheitsgeschichte.
Genau beschrieben wird dies alles von Adolf Fliri in seinem Buch „Geschichtliches über die ehemaligen Wassermühlen“. Darin wird eine überraschende Fülle von Zeugnissen dieser alten Wirtschaftskultur festgehalten, liebevoll beschrieben und erklärt. Ein Beispiel: Mit dem Kirchbachwasser vom Naturnser Sonnenberg wurden etwa 20 Mühlen, die sich teilweise bis heute erhalten haben, angetrieben. Betriebstauglich sind nur noch jene Mühlen, für deren Erhaltung sich die Besitzer oder Liebhaber dieser Technik eingesetzt haben. Förderer sind vor allem die Heimatpfleger, die sich um das ganze Umfeld kümmern, so auch um den Anbau alter Getreidesorten.
Der Vinschgau galt einst als die Kornkammer Tirols; überall wurde Getreide angebaut, an den Berghängen ebenso wie im Talgrund. Fliri schreibt in seinem Buch über die Bauart der Mühlengebäude, über die Hintergründe des „Mühlensterbens“, über das Mahlgut, die Kornkist und bringt viel historisches Material. Auf ganz Vinschgau verteilt, dürfte die Schätzung von 500 ehemaligen Mühlen nicht übertrieben sein. Wassermühlen versteht sich, wobei sich von vielen Anlagen nur noch die Erinnerung erhalten hat. Wellbam, Komprod, Legr, Lafr, Goss, Beitlkostn... Namen der Bestandteile einer Mühle in unserem Dialekt; Adolf Fliri bringt auch die hochdeutschen Namen und erklärt die Funktion der verschiedenen Bestandteile.
„Flachländler“ kennen vor allem Windmühlen; sie prägten einst die Landschaft. Ihre Darstellung war beliebt bei den vielen niederländischen Künstlern. Weltberühmt wurden sie auch durch Don Quijotes Kampf gegen die Windmühlen: Der etwas geistesverwirrte Ritter hielt sie für böse Riesen, die er wütend mit Pferd und Lanze berannte. Hierin ähnlich unseren Umweltschützern, die gegen Elektro - Windmühlen kämpfen.
Eine Wassermühle aus den Alpen zeigt das Aquarell von Albrecht Dürer, das auf einer Italienreise entstand und sich jetzt in Berlin befindet. Es zeigt den „Schusskoundl“ einer „oberschlächtige“ Mühle, bei der das Wasser mit großem Druck von oben auf das Mühlrad geleitet wird. Daneben sitzt ein zeichnender Malerknaben auf einem Mühlstein, dessen reiche symbolische Bedeutung wir aus der Bibel kennen. Aber auch aus der religiösen Kunst des Mittelalters: Auf einem romanischen Kapitell aus Burgund wird Anstelle des Weizens der Körper Christi gemahlen; unter der Mühle fangen ein Papst und ein Kardinal die herausrinnenden Hostien in einem Tabernakel auf.
Die erste Mühle überhaupt ist unser Gebiss, mit den Zähnen als Mahlsteine. Wir zerkleinern die Körner und machen sie verdaulich. So versteht sich auch die Philosophie: Die Probleme werden aufgerieben, zerkleinert, gesiebt, gerüttelt und in Säcke gefüllt. Das sind dann die Bücher mit den großen, meist etwas eintönigen Sammlungen von weißlich aufbereitetem und vorverdautem Wissen. So betrachtet gleicht also das Mehl des Müllers der Arbeit des Philosophen. Aber erst wenn die Frauen allerhand Köstlichkeiten daraus machen, wird die Gottesgabe lebendig; das gilt irgendwie auch für die Philosophie.
Aber warum hatte einst fast jeder Hof eine eigene Mühle? Dafür gibt es mehrere Gründe, unter anderem auch den des Misstrauens. Der Müller galt vielfach als unredlich: Viel Korn wurde geliefert, zu wenig Mehl bekam der Bauer zurück. „Beim Kouflmüller muas man froa sein, wenn man in laarn Sock zrugg kriag!“
Neben den Hofmühlen gab es die größeren Dorf-, Stadt- oder Klostermühlen. Die Einsamkeit beim Wasser am Rande der Siedlungen, in einem finsteren Tal führte dazu, dass mit den Mühlen allerhand Aberglaube verbunden wurde. Oft waren sie Orte der Zauberei, aber auch der geschlechtlichen Sünde. Ich stelle mir ein Liebespaar vor, das mehlbestäubt die etwas unbequeme Bretterliege verlässt und blinzelnd ins irdische Dasein zurückkehrt. Und die schöne Müllerin beginnt zu singen.
Hans Wielander
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