Wolfgang Platter, am Tag der Hlg. Joachim und Anna, 26. Juli 2019

Am Freitag, 19. Juli d.J. fand im Nationalparkhaus in Sant´Antonio Valfurva und damit im lombardischen Teil des Nationalparks Stilfserjoch ein wissenschaftliches Seminar zum Thema „Einige Auswirkungen des Klimawandels im Hochgebirge“ statt. Namhafte Wissenschaftler und Forscher haben die neuesten Ergebnisse ihrer Feldforschung und ihre Erkenntnisse daraus vorgestellt. Einige interessante Punkte fasse ich in meinem heutigen Beitrag zusammen.

Die Gletscherschmelze
DSC 2615Prof. Claudio Smiraglia ist Universitätslehrer und Forscher an der Universität Mailand. Er ist Mitautor des neuen italienischen Gletscherkatasters und gilt als der Glaziologe mit der größten Forschungserfahrung am Forni-Gletscher als Talschluss der Valfurva und zur Massen- und Wasserbilanz der lombardischen Gletscher. Seit vielen Jahren beforscht er mit seinen Dissertanten und Diplomanden die Eispanzer der lombardischen Berge. Der Forni-Gletscher im gleichnamigen Hochtal ummantelt die Dreitausender an der Landesgrenze Lombardei, Südtirol und Trentino wie Pall0n de la Mare, Cima Rosole, Punta San Matteo und Monte Vioz. Der Forni-Gletscher hatte 1889 noch eine Flächenausdehnung von 18,99 Hektaren, im Jahr 2016 war seine Fläche auf 10,38 ha und damit fast die Hälfte seiner Fläche von vor 130 Jahren geschrumpft. Während der Anstieg des Meeresspiegels infolge der Erderwärmung ob der Weite und Ausdehnung der Meere optisch nicht leicht wahrgenommen werden kann, springt der massive Rückgang der alpinen Gletscher sofort ins Auge. Prof. Smiraglia hat in seinem Referat die Hypothese entwickelt, dass der Forni-Gletscher im Jahr 2050 in drei kleine Teilgletscher zerfallen sein wird. Die weißen Gletscher („ghiacciai bianchi“) werden durch Geröllüberschüttung zunehmend zu schwarzen Gletschern („ghiacciai neri“). Dies beschleunigt ihren Abschmelzprozess noch zusätzlich, weil die dunklen Gesteine mehr Wärme absorbieren als die weiße Schneeauflage eines Gletschers.

Der auftauende Permafrost
Prof. Mauro Guglielmin von der Universität Insubria Varese behandelte in seinem Referat die Folgen der auftauenden Permafrostböden. Einleitend erinnerte er an den riesigen Bergsturz der „Frana della Val Pola“, welche im Juli 1987 das Dorf St. Antonio Morricone im Veltlintal begraben, Menschenleben gefordert und die Adda aufgestaut hat. Im Anbruchgebiet dieses Bergsturzes von mehreren Millionen Kubikmetern gab es davor Permafrost. Der auftauende Permafrost interagiert langsam, unter Umständen verzögert mit bis zu 25 Jahren, aber abhaltend. Und auf die Frage, ob auftauende Permafrostböden die Häufigkeit von Erdrutschen und Muren erhöhen und das alpine Landschaftsbild verändern werden, stellte Prof. Guglielmin fest, dass das Landschaftsbild langsam, wenig auf einmal, aber stetig und in längeren Zeiträumen, welche die Dauer eines Menschenlebens überschreiten, verändert wird. Global betrachtet setzt ein Zentimeter Eisabschmelze aus Permafrost mehr Methan frei als alle menschlichen Aktivitäten. Methan verstärkt als Gas den Treibhauseffekt 20 Mal stärker als Kohlendioxid.

Die Leistungen der Vegetation als Klimapuffer
Prof. Nicoletta Cannone, Vegetationskundlerin an der Universität Varese, untersucht seit Jahren auf Probeflächen knapp unterhalb des Stilfserjochs die Auswirkungen des Klimawandels auf die Alpenpflanzen. Dass der Holzwuchs und damit die Wald- und Baumgrenze nach oben wandern, ist seit Jahren bekannt. Aber nicht nur die stammbildenden Bäume wandern nach oben, sondern auch die verholzenden Sträucher. Und diese Strauchvegetation be- und verdrängt die alpinen Rasengesellschaften. Im Zusammenhang mit dem Klimawandel infolge des erhöhten Gehaltes an Kohlendioxid in der Atmosphäre kommt den fotosynthetisierenden Pflanzen eine zentrale Bedeutung zu: sie binden Kohlenstoff. Durch physiologische Messungen ist bewiesen, dass die krautigen Pflanzen der alpinen Rasengesellschaften mit ihrer Phytomasse im Vergleich z.B. zu dem verholzenden Almrosengebüsch fast doppelt so viel Kohlendioxid binden und damit stärker zur Abmilderung des Treibhauseffektes beitragen als eben der sich ausbreitende Almrosengürtel.
Aus Satellitenaufnahmen und -messungen ist auch bekannt, dass Alaska, die Antarktis und die Alpen die drei Regionen der Erde mit der stärksten Erwärmung sind. Deswegen werden wir den Klimawandel in den Alpen auch besonders deutlich zu spüren bekommen.

Mikrobiologie der Gletscher
Prof. Andrea Franzetti st Ökomikrobiologe an der Mailänder Universität Bicocca. Sein besonderes Interesse gilt den Mikroorganismen der Kryosphäre, also der gefrorenen Bereiche. Dort, wo man kaum Leben erwartet in den Schmelzlöchern der Gletscher („pozzetti crioconici“) fand Prof. Franzetti hotspots der mikrobiologischen Artenvielfalt und Aktivität. Den Mikroorganismen der Kryopshäre kommen verschiedene metabolische Funktionen zu: so beliefern sie etwa die talwärts vorkommenden Organismen und Ökosysteme mit erschlossenen Nährstoffen, sie binden Schadstoffe aus der Luft und den Niederschlägen wie ein Schwamm und bauen sie als Reduzenten auch ab.

Der Schneefink als Bioindikator
373B1Dr. Davide Scridel vom Naturmuseum Trient ist Ornithologe und hat im Rahmen einer vierjährigen Arbeit für ein Forschungsdoktorat den Schneefink (Montifringilla nivalis) am Stilfserjoch, am Gaviapass und in Vergleichsflächen im Trentiner Landesnaturpark Paneveggio und Pale di San Martino untersucht. Die Schneefink-Eltern füttern ihre Jungen mit Insekten und anderen Wirbellosen als Eiweißquelle. Weil sich bei zunehmender Verholzung die Nahrungskette in den alpinen Rasengesellschaften verändert und der Insektenanteil abnimmt, sind im Untersuchungszeitraum die erfolgreich brütenden Schneefink-Paare um 30-40% geschrumpft. Und aus einem plausiblen Szenario befürchtet Dr. Scridel bis zum Jahre 2050 sogar den Verlust von 80% der alpinen Population des Schneefinks.

Gewinner und Verlierer
117B2Dr. Luca Pedrotti ist Huftierspezialist und im Nationalpark Stilfserjoch nach wie vor der Koordinator der wissenschaftlichen Forschung und des Wildtiermonitorings. Im Rahmen seines Referates stellt er die Wanderungstendenzen und Verdrängungsprozesse bei den drei Huftierarten Rotwild, Gämse und Steinwild dar. Durch die Erderwärmung treiben die Gebirgspflanzen um bis zu drei Wochen zeitiger aus als früher. Der Rothirsch folgt dem frischen, saftigen und nahrhaften Grün der Gräser nach oben. Er dringt dabei immer stärker in den angestammten Lebensraum der Gämse ein. Die Rotwildpopulationen wachsen alpenweit, die Gamsbestände haben sich in den letzten zwanzig Jahren im Gebiet des Nationalparks Stilfserjoch halbiert.
275B1Die verfrühte Phänologie der Gebirgspflanzen erhöht auch die Mortalität der Steinkitze: Die Setzzeit der Geißen bleibt mit Mitte Juni dieselbe wie früher. Die evolutionäre Anpassung der Großtierart Steinwild geht sehr viel langsamer vonstatten als die der Gräser. Wenn die Geißen ihre Kitze setzen, haben ihre Futterpflanzen ihr Nährwertoptimum schon überschritten. Die Muttermilch der Geißen fällt magerer aus und die Sterblichkeit der Kitze steigt. Im Nationalpark Gran Paradiso, dem Kerngebiet des Steinwildes in den Alpen, ist die Steinwildpopulation auf die Hälfte eingebrochen.

 

Publiziert in Ausgabe 16/2019

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