Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Die 18 cm große Bronzefigur trägt den Titel „Sich Anziehende“ korrigiert mich der Ulrich. Mit diesem Hinweis entsteht Verlegenheit. Da steh ich nun da als einer, der eine sich Anziehende „auszieht“. Eine Frau amüsiert sich über diese Verwechslung und macht sich Gedanken: Die Einsamkeit des Menschen ganz allgemein. Anziehen oder ausziehen... Stimmung des Überganges. Vom Traum in das Wachsein, oder umgekehrt. Wir verlassen eine vertraute Ebene. Wir häuten uns, wie eine Schlange.
Es geht nicht um erotische Erwartungen. Die Einsamkeit ist nicht Verzweiflung. Es ist auch die Einsamkeit am Kreuz. Grasser hat Jesus immer wieder dargestellt. Leidend, sicherlich, aber immer wieder auferstehend, voll Sehnsucht. Erlösend auf Goldgrund, wie über dem Volksaltar der Kortscher Pfarrkirche. Der menschliche Körper wird zum Lob der Schöpfung.
Karl Grasser macht mit jungen Künstlern Malkurse, auch Aktzeichnungen, wie auf einer Akademie. Ganz selbstverständlich hier im Vinschgau, überall. So sehr wird das jetzt angenommen, dass er als Aufklärer gilt. Lehrer ist er vor allem, aber auch ein sanfter Revolutionär, der eine Buchvorstellung im Kulturhaus von Schlanders zum Volksfest werden ließ. Natürlich mit Hilfe vieler Frauen und mit ihren Köstlichkeiten. Es entsteht eine neue Festkultur und zwar - und das ist neu - mit Beteiligung der ganzen Bevölkerung. Alle machen sie mit, der Bürgermeistern ebenso wie die Vereine, die einfachen Menschen und auch die komplizierten.
Das war nicht immer so. Ob sich der Karl an die Baukommission erinnert, als er noch von den Mächtigen des Geldes und der Meinungsbildung regelrecht verwünscht wurde? Er hat den Baulöwen widersprochen und manches Unheil verhindert. Er hat gekämpft gegen die Profitgier, wie der heilige Georg gegen den Drachen. Sein schönes Haus mit dem Atelier liegt am Ausgang der Georgenschlucht.
Gewaltige Edelkastanien leiten über zum Sonnenberg. Dort wird er fündig. Das Schnitzmesser durchpflügt das Holz. Schollen von Licht und Schatten brechen auf. Die Schatten wohnen im Gemäuer, in den Rinden der Bäume, in Hofräumen, unter den Dächern. Sie krallen sich in die Runsen der Sonnleiten und steigen ins Tal, durch Trockenmauern ins Dorf. In die Seele der Menschen. „Als Kind hatte ich Angst vor den Schatten ... später habe ich die Angst überwunden, denn zum Schatten kam das Licht“.
Karl Grasser hat seit seinem Wiener Akademiestudium - abgesehen von einigen Kunstreisen - sein Heimattal nicht mehr verlassen. Der Formenreichtum hält ihn hier gefangen. Und lockt seine Freunde. Besonders eng verbunden ist er mit den Künstlern des Landecker Oberlandes. Mit ihnen geht er noch immer zeichnen und malen und immer ist es die bäuerliche Welt, der Dialog von Haus und Hang, von Zaun und Horizont. Aus dem Schwarz der Holzschnitte und der Zeichnungen steigt Farbe wie die Saat aus dem Acker. Tiere, Strukturen, die Dachlandschaft von Kortsch, aber auch der Besinnungsweg nach St. Ägidius mit den Rosenkranzkapellen.
Lieber Karl, Deine Arbeit stiftet Frieden, sie gefällt nicht nur, sie nützt auch den Zweiflern. Deine Kunst wird zum Anker, mit dem man festmachen kann in den Stürmen dieser oberflächlichen, verrückt gefährlichen Welt.
Hans Wielander
Zeitung Vinschgerwind Bezirk Vinschgau