Die Liebe zu einer Landschaft kann wachsen, wie alle Liebe und so gilt dies auch für den Vinschgauer Sonnenberg. Gemeint ist damit die Südabdachung der Ötztaler Alpen, ein etwa 50 km breiter, von Partschins bis Mals nach Süden gewölbter Gebirgsbogen, der von 500 m bis zu 3000 m Meereshöhe aufsteigt.
Er beeindruckt durch monumentale Wucht, seine Herbheit und Vielfalt auf verschiedensten Klimastufen.
Wegen seiner Steppenvegetation gehört der Sonnenberg zu den interessantesten Forschungsgebieten des Alpenraumes. Naturwissenschaftler haben immer wieder Exkursionen in den Vinschgau gemacht, vor allem wegen botanischer und zoologischer Besonderheiten. So auch die holländische Universität Leiden, die bereits vor mehr als 50 Jahren systematische Bestandsaufnahmen gemacht hat. Was interessiert die Flachländler an diesen oft kahlen Hängen? Schönheit durch Vielfalt, Millionen von Jahren werden hier greifbar, die Kräfte der Alpenfaltung ebenso wie die Spuren der Eiszeiten. Die von mächtigen Gletscherströmen ausgehobelten Talflanken sind deutlich als Geländeprofile erkennbar, wie auf einer Messskala. Zahlreiche Murkegel fließen aus großen und kleinen Seitentälern heraus wie aus einer Sanduhr. Sie tragen die ältesten Siedlungen mit den dazugehörigen Wasserführungen, den Waalen, die heute zu den beliebtesten Wanderwegen zählen.
Lange wurde der Vinschgauer Sonnenberg als furchtbar ernstes, ja drohendes Greisenantlitz beschrieben, so etwa bei Richard Stafler vor 90 Jahren in seinem Buch über „Die Hofnamen im Landgericht Schlanders“. Eine Wende in der Beurteilung dieser vertikalen Landschaft brachten verschiedene botanische und meteorologische Untersuchungen, vor allem die Arbeiten von Ina Schenk „Die Klimainsel Vinschgau“ (Trient 1951) und „Die Steppenvegetation des mittleren Vinschgaus“ von Alfred Strimmer. Immer mehr Arbeiten über diese inneralpine Trockenzone zeugen von einem überraschenden Umdenken; gute Dokumentationen werden im „Vinschtschger Museum“ in Schluderns und im Naturkundemuseum von Bozen gezeigt. Der Künstler Erich Kofler Fuchsberg macht im „Schlern“ (78/2004, Heft 10, Seite 9 „Der Vinschgauer Sonnenberg“) den Versuch einer Annäherung: „Die vom Menschen gestaltete Landschaft kann in Einzelheiten und in ihrem Gesamtkontext als Kunstwerk verstanden werden...“ In diesem umfangreichen Beitrag bringt Kofler eine Überfülle von Beispielen und nennt die Autoren und Titel der zahlreichen Veröffentlichungen zu diesem Thema.
Vor etwa 130 Jahren wurde mit der systematischen Aufforstung begonnen, um die fortschreitende Verkarstung des Berges zu verhindern. Dabei wurden vor allem standortfremde Schwarzföhren angepflanzt, eine nur teilweise erfolgreiche Aufforstung; jetzt werden einheimische Bäume und Sträucher bevorzugt.
Zeitlich früher haben Künstler und Schriftsteller den Reichtum dieses botanischen Gartens und geologischen Lehrkörpers erkannt. Volkskundler und Archäologen sind hier ebenfalls zu nennen, zumal sich auf dem Sonnenberg bereits in frühgeschichtlicher Zeit der Großteil des Lebens abgespielt hat.
Der Vinschgauer Sonnenberg erstreckt sich halbmondförmige von Partschins bis Mals als Gegenform zum waldreichen Nördersberg; das ist die in Wintermonaten meist schattige, nach Norden offenen Talflanke des Vinschgaus mit den Ausläufern der Ortlergruppe und des Ultner Bergkammes.
In den klimatisch milden Monaten gedeihen auf dem Sonnenberg (neben der Liebe) schon sehr früh Gräser, Sträucher und Blumen, die selbst blumenblinde Menschen zum Schauen und Forschen anregen. Wasserspeichernde Fettpflanzen scheinen sich ohne Regen wohl zu fühlen; die Trockenheit liebende Gräser, wie etwa das Federgras, werden in gewissen Gegenden des Landes gebündelt als Schmuck auf die Trachtenhüte gesteckt. Um den Frauen zu gefallen.
Das hauchdünne Gras ist so empfindlich wie die Liebe: Bald lang und glatt, bald ringelt sich das federzarte Gewächs und verkündet schönes Wetter.
Hans Wielander
Eine kulturgeographische Darstellung des Vinschgauer Sonnenberges von Hans Wielander ist in Vorbereitung
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